Herbert von Thomas Stuber. BRD, 2015. Peter Kurth, Lina Wendel, Lena Lauzemis, Edin Hasanovic, Reiner Schöne, Lola Liefers, Kristin Suckow

   Herbert war einst die große Nummer der Leipziger Boxerszene. Doch nun geht’s mit ihm bergab – seinen Job als Trainerfüllt er mit mäßigem Erfolg, wenn auch viel Herzblut aus, als Mann fürs Grobe eines „Inkassounternehmens“ macht er sich auch wenig Freunde, und zur Not verdient er noch ein paar Euros als Securitymann in irgendeinem Club. Seine Freundin Marlene behandelt er mal so, mal so, im Grunde also ist er ziemlich allein. Es gibt auch noch eine Vergangenheit, eine Familie, die er mal hatte und die er verlor. Seine Tochter heißt Sandra, sie war noch klein, als er in der Knast gehen musste und ihr versprach, zurückzukommen, und sie wartete vergeblich, weshalb sie nun extrem spröde reagiert, als er doch wieder versucht, sich ihr und der kleinen Tochter Ronja, Herberts Enkelin also, zu nähern. Seine Bemühungen werden verzweifelter und intensiver, als er noch monatelangen rätselhaften Muskelkrämpfen sich doch mal neurologisch durchchecken lässt und eine ernüchternde Diagnose hört: ALS. Es geht körperlich mit ihm rapid bergab, er geht zunächst noch halbwegs am Stock, kann sich noch verständigen, bald jedoch ist er ein Fall für den Rollstuhl, die Pflege, verliert seine Sprache. Marlene begleitet ihn, obwohl er es ihr nicht leicht macht und sie mehr als einmal kräftig die Zähne zusammenbeißen muss, doch alle anderen alten Weggefährten wenden sich von ihm ab – sein ehemaliger Schüler, dem dank seiner Erfahrung eine vielversprechende Karriere bevorsteht, der Chef vom Inkasso, der für Krüppel keine Verwendung hat, die anderen Jungs aus der Szene, die mit der Situation einfach nicht umgehen können. Nur sein alter Tätowierer hält noch zu ihm, und gemeinsam halten sie auch noch den Traum von der Route 66 aufrecht, die sie immer gemeinsam bewältigen wollten. Seine wirklich einzig verbliebene Herausforderung aber sind Sandra und Ronja, und auch da steht sich Herbert zur Hälfte selbst im Weg, verdrischt Ronjas Papa vor den Augen des Kindes, zertritt damit die zarte Möglichkeit einer Annäherung, die sich angedeutet hatte, und erst nach seinem Tod, als sie eine von Herbert zu besseren Zeiten besprochene Kassette abhören, zeigt sich, dass auch für Sandra wohl noch nicht alles gesagt war.

   Eine wuchtige, imponierende Passionsgeschichte einerseits sehr am klassischen US-Modell des Boxerdramas ausgerichtet, andererseits aber tief und fest im ostdeutschen Milieu verwurzelt und dort auch sehr präzise angesiedelt. Die tristen Plattenbausiedlungen, die schäbigen Trainingsräume, Hinterhofbüros, halbseidenen Clubs sind Teile von Herberts Welt, in der er immer schon gelebt hat und in der er gleichsam seinen schön unaufhaltsamen sozialen Abstieg begangen hat. Die Vergangenheit bleibt ein wenig nebulös, Sandras kurze Erwähnung der Knastzeit reicht aber annähernd hin, um sich ein Bild davon zu machen, in welchen Kreisen der kernige, wortkarge Boxer verkehrte und welche Folgen das für seine Familie gehabt haben muss. Eine andere, viel wichtigere Andeutung kommt von Sandras Ex und zielt deutlich in Richtung Missbrauch, und da Herbert ihm sofort danach in rasender Wut ordentlich die Visage poliert, haben wir die Wahl, entweder auf reine Provokation zu spekulieren oder doch vielmehr auf Scham und verdrängte Schuld. Interessanterweise wird dieses Thema nie mehr aufgenommen, auch von Sandra selbst nicht, sodass es möglicherweise doch aus der Luft gegriffen ist, sich bei mir aber irgendwie doch festsetzte. Zumal Herbert ohnehin kein besonderer Sympathieträger ist, einer, der wenig redet, erst recht nicht über Gefühle oder anderen Weiberkram, der seine Marlene vorzugsweise fürs Bett braucht und sie sonst auch schon mal gnadenlos versetzt oder nach Belieben vor den Kopf stößt, wenn er mal einen schlechten Tag gehabt hat. So einer kriegt ja nicht auf einmal unser Mitgefühl, indem er sich eine tödliche Krankheit zuzieht – oder…? Müsste man vielleicht mal kurz hinterfragen, denn irgendwie glaube ich, dass es genau so ist. Natürlich wird Herberts Kampf in allen bitteren, schmerzhaften Details mit größtmöglicher Intensität beschrieben, sein Kampf gegen den Verfall, sein Kampf um den letzten Rest Würde, gleichzeitig aber bleiben all die Dinge, die wir bis dahin schon über ihn erfahren und die natürlich unsere Meinung über ihn geprägt haben. Der Film fordert dazu auf, uns von diesem Schema zu lösen, den Menschen Herbert hier und jetzt zu sehen und ihn nicht anhand der Dinge zu verurteilen, die er früher getan oder auch nicht getan hat. Gleichzeitig lernen wir, den Menschen Herbert sehr klar als Produkt seines Milieus zu sehen, die Sprache, die Gesten, die Denke, die ganze Hartemännerfassade, die Herbert selbst total verinnerlicht hat, die ihm aber natürlich auch immer total im Wege war und die er nun in kürzestmöglicher Zeit durchdringen muss, um noch eine Chance zu haben, sich einmal seiner Tochter erklären zu können. Zwar kommt es zu dieser Begegnung nicht mehr, doch nehmen Sandra und Ronja immerhin seine „Botschaft“ mit, und wir sehen Sandra an, dass sie ihr nicht gleichgültig ist. Von daher sind auch die zwischenzeitlichen, kurzen Blicke auf die Frauenfiguren von Bedeutung. Marlene, die sich aufopfert mit scheinbar endloser Geduld, obwohl Herbert sich auch als Schwerkranker noch launisch, ruppig, bisweilen verletzend gibt, und Sandra, die nach allem einer Annäherung an den lange vermissten, schließlich verhassten Vater doch nicht abgeneigt ist, und wir können nur vage erahnen, was sie alles in sich überwinden musste, um an diesen Punkt zu kommen. Ganz klar -  die Frauen sind mal wieder die stärkeren.

 

   Die eindrucksvoll geschriebene, inszenierte und fotografierte Milieugeschichte erinnert an die besten aus bundesdeutschen Landen seit der Wiedervereinigung (Andreas Dresen zum Beispiel wäre zu nennen) und hat mir besonders deshalb so gut gefallen, weil sie bis auf einige Momente am Ende so gut wie ganz ohne Gefühlsverstärker auskommt (also genau das, was US-Boxerdramen im Überfluss auszeichnet), weil sie ihre Geschichte ruhig, souverän, eindringlich erzählt. Alle Schauspieler sind extrem gut, aber was Stefan Kurt da macht, ist natürlich schon was Besonderes. Den sieht man zumeist, so wie fast all seine übrigen Kollegen hierzulande, in mehr oder weniger routinierten TV-Produktionen, und es ist immer eine wahre Offenbarung, diese Leute mal zu erleben, wenn sie in kein sendezeitdienliches Korsett gezwängt wurden – dann kommt oftmals große Kunst dabei raus, genau wie hier. Nicht nur physisch ist das äußerst stark, auch das schrittweise Verschwinden eines Menschen, der gesamten Persönlichkeit, wird mit zunehmender Dauer mit immer reduzierteren Mitteln immer einfühlsamer dargestellt. Wenn man all diesen tollen Schauspielern also ab und zu mal solche Chancen gibt, ihr wahres Spektrum zu entfalten, dann lass ich mir all die Serienkrimis und dergleichen gern gefallen, denn die sorgen schließlich in erster Linie dafür, dass die überhaupt noch dabei sind. (23.3.)