High-Rise von Ben Wheatley. England. 2016. Tom Hiddleston, Sienna Miller, Jeremy Irons, Luke Evans, Elisabeth Moss, James Purefoy, Keeley Hawes, Augustus Prew
Witzig, dass solch ein Film heute noch gemacht wird. Eigentlich gehört er genau in die Zeit, da der Roman entstand und auch angesiedelt ist, nämlich in die 70er. Zwar sind Dystopien im Kino heute auch noch sehr schick und angesagt, aber so konkret sozial-politisches Zeug will man der Generation „Ich“ eigentlich gar nicht zumuten. Nun ja, dieser Film tut’s, und allein dafür gebührt ihm Respekt. Ich muss dazu allerdings sagen, dass ich ganz allein im Kino saß, und dass die Vorstellungen bereits von Anfang an ins Mitternachtssegment verlegt wurden, also so überwältigend ist das Interesse an solchen Filmen dann wohl doch nicht, weder von Seiten der Kinogänger noch der Kinomacher.
Dabei sind die Themen, die J.G. Ballards Roman verarbeitet, auch vierzig Jahre nach dessen Entstehung noch absolut aktuell, das Bild vom Hochhaus als idealistisch konzipierter Mikrokosmos ist noch immer gültig. In solch ein Haus zieht Dr. Robert Laing ein, entscheidet sich bewusst für das kühne neue Projekt am Stadtrand, entworfen und realisiert von Mr. Royal, der gemeinsam mit seiner mittelalterversessenen Gattin hoch oben auf dem Dach lebt und die Idee hatte, Menschen aller Klassen unter einem Dach zu versammeln und zwar so, dass sie in Frieden miteinander leben und alles vorfinden, was zum Leben nötig ist – Supermärkte, Schwimmhallen, Sportanlagen undsoweiter. Nun aber sind die Menschen nun mal nicht dazu geschaffen, in Frieden miteinander zu leben, und so stellen sich bald Störungen ein, die im Laufe der Zeit zu monströsen Entgleisungen führen. Es fängt an mit kleinen technischen Unzulänglichkeiten, Stromausfällen, einem verstopften Müllschacht, die frühzeitig eine Atmosphäre des Missmuts, des Misstrauens etablieren. Und natürlich die asoziale Hierarchie: Loyal war anscheinend viel zu naiv, um die Bedeutung derselben korrekt einzuschätzen, als er die Besserbetuchten in den oberen und die eher nicht so gut Betuchten in die unteren Etagen ansiedelte und damit von vornherein eine Zementierung des herrschenden Klassensystems auch im Mikrokosmos fortsetzte. Und schon bald zeigt die Gesellschaft im Ganzen ihre hässliche Fratze: Die da oben stellen ihren Lebensstil ungeniert und höhnisch zu Schau, amüsieren sich bei Kokainpartys, Kostümspielchen und üppigen sexuellen Ausschweifungen, die da unten beobachten sie mit Hass und Neid, ahmen die protzige, hedonistische Attitüde mit ihren Mitteln nach, sprich alles einen Gang vulgärer und roher. Dr. Laing versucht irgendwie, sich zwischen diesen extremen zu verorten und die Regeln der Zivilisation zu beachten, gibt aber sehr bald auch den offensiven weiblichen Reizen der Nachbarin von oben nach, und ist gleichermaßen fasziniert von der ungeschliffenen Körperlichkeit Mr. Wilders und den philanthropischen Visionen Mr. Loyals. Doch ist insgesamt der Absturz unaufhaltsam, das Gebäude mitsamt seiner Einwohner verfällt immer mehr, alle moralischen Schranken fallen früher oder später und es beginnt ein brutaler Machtkampf, an dessen Ende Tod und Anarchie stehen, doch plötzlich ist ausgerechnet Mr. Laing obenauf, hat nun den Platz an der Sonne und kann zufrieden in die wie auch immer geartete Zukunft blicken.
Dazu wird ein Hohelied auf den Kapitalismus verlesen, das sich arg nach der Eisernen Lady anhört und dem wüsten Treiben die satirische Krone aufsetzt. Von diesen patzigen Ausfällen hätte es für meinen Geschmack ruhig noch einige mehr geben können. Ansonsten läuft „High-Rise“ Gefahr, wie alle anderen seiner Art, über endlose Eskalationen ein wenig den klaren Kopf zu verlieren, soll heißen, gerade die Filme, die sich intensiv mit Chaos und dem totalen Verfall aller menschlichen „Werte“ beschäftigen, sind am Ende selbst ein bisschen fasziniert davon und weiden sich gern an den optischen Schauwerten (siehe Fellini, Visconti, Ferreri und viele viele andere). In solchen Momenten ist die Provokation zwar schön deftig, droht aber auch zum reinen Spektakel zu werden, wie man es ja auch Herrn Pasolini einst vorwarf (manchmal sogar zurecht), und dann bricht manchmal die Spitze des Stachels ab. Ben Wheatleys Verfilmung ist nicht frei von diesem Effekt, zumal er sich satte zwei Stunden dafür genommen hat, und so ergibt sich die eine oder andere Länge, obwohl ich den Film trotz der späten Stunde auf seine garstige Art als recht unterhaltsam empfunden habe. Und er ist natürlich in vielen Ansätzen sehr gelungen, scharfsinnig, suggestiv und auf interessante Weise vieldeutig. Psychologie findet ihren Einzug, Kapitalismuskritik ebenso, ein bissiges Gesellschaftsporträt ist die Geschichte sowieso, aber auch eine Reflektion über Architektur und ob sie tatsächlich etwas mit den Menschen macht. Mehrmals wird im Film das Eigenleben des gigantischen Komplexes betont, wird dem Haus selbst die Schuld an den Ereignissen zugesprochen. Es gibt für das Gebäude sehr viele Vorbilder, und noch immer werden sie gebaut, und man muss wahrscheinlich kein studierter Soziologe sein, um nicht zumindest die Idee von einer Wechselwirkung schlüssig zu finden. Die modernen Wohntürme sehen vielleicht etwas schicker aus als die grobschlächtigen Ghettos der 60er und 70er, der Geist jedoch ist im Grunde derselbe und die Wirkung wird wohl auch ähnlich sein. Bei allen Bemühungen um eine öffentlich geregelte „gute Nachbarschaft“ lässt sich die Anonymisierung der Einwohner kaum vermeiden. In diesem Fall wird sie zugespitzt durch eine Hierarchisierung, was gerade in England natürlich noch eine andere Dimension hat als in anderen Ländern. Dennoch ist die Aussage zeitlos, der Befund ist überregional, käme überall sonst auch zur Geltung. Der Wohnblock ist das traurige Abbild einer guten Absicht, die furchtbar schief gegangen ist, ist aber natürlich viel mehr, ist auch das Abbild einer Gesellschaft, die schief gegangen ist, weil sie sich selbst Strukturen geschaffen hat, die ein friedliches Miteinander unmöglich machen. Die Dynamik basiert auf Ungleichheit und darauf, dass die einen alles tun, um ihre Position zu verteidigen, die anderen wiederum alles tun, um aufzusteigen und die Konkurrenten vom Sockel zu stoßen. Die Art von Dynamik also, die Wirtschaftsgläubige und sogenannte „Liberale“ für die einzig erfolgversprechende Daseinsform einer Gesellschaft erachten. Leider haben sie sich durchgesetzt, und man sieht nun, was wir davon haben.
Aber ich schweife ab. Dies ist ein sehr anregender, schillernder, manchmal auch schriller Film, der tatsächlich eine Menge Gedanken provoziert und der sich auf keinen Fall einfach so locker wegkonsumieren lässt. Schon mal ein deutlicher Pluspunkt. Starke Bilder, starke Darsteller und ein Drehbuch, das die Eskalationsschraube frühzeitig anzieht und immer wieder sehr prägnante Motive und Szenen einfügt, auch wenn es wie schon gesagt schwierig ist, über die gesamte Spieldauer hinweg eine wirklich überzeugende und gleichbleibend interessante Eskalationskurve hinzukriegen. Manchmal sind wir bei Jeunet und Caro, manchmal bei den oben genannten italienischen Herren, manchmal gar bei Herrn Buñuel, der Surrealismus und Subversivität auf bis heute optimale Weise verband, und von dem Mr. Wheatley zumindest das eine oder andere Detail abgeschaut zu haben scheint. Manchmal schaut auch der Mr. Anderson um die Ecke, dessen wunderbar grimmige, unverhohlen linkslastige Gesellschaftsfantasien wie „If…“ hier sicherlich ihre Spuren hinterlassen haben. Wie gesagt, sowas kennt man aus den 70ern, wo man für Provokationen noch empfänglicher war als in unserem allseits satten neuen Jahrtausend. Wie will man uns heute noch provozieren, ich meine wirklich im tiefsten Innern treffen? Da müsste man schon ganz schön große Kaliber auffahren, ich persönlich bezweifle aber, dass selbst dies helfen würde. Das spricht aber ganz und gar nicht dagegen, einen Film wie „High-Rise“ zu machen. Er ist trotz kleiner Konstruktionsprobleme sehr gelungen, finde ich, und es ist vor allem gut, dass es ihn überhaupt gibt. (22.7.)