I, Daniel Blake von Ken Loach. England/Frankreich/Belgien, 2016. Dave Johns, Hayley Squires, Briana Shann, Dylan McKiernan, Harriet Ghost, Kema Sikazwe, Steven Richens
Vor zwei Jahren erschreckte mich die Nachricht von Ken Loachs Rücktritt aus dem aktiven Filmschaffen. Undenkbar erschien die Vorstellung, zukünftig ohne seine großartigen Filme auskommen zu müssen, umso mehr, als weit und breit niemand in Sicht war (und noch immer nicht ist), der die Lücke ansatzweise hätte füllen können. In diesem Frühjahr nun beglückte mich die Kunde vom Rücktritt vom Rücktritt (wie schön, dass es dieses Hintertürchen immer gibt und dass es so oft und gern genutzt wird…), den Loach sicherlich nicht bereut haben wird, nachdem er in Cannes gleich mal wieder die Goldene Palme abräumte. Vermutlich hat er begriffen, dass seine Stimme weiterhin unverzichtbar ist in einem Kunstbetrieb, der sich mehr und mehr entweder auf die bequeme Wohlfühlschiene oder auf Abenteuer in fernen Galaxien festgelegt hat und in dem politisch explizites, relevantes, engagiertes Kino so gut wie überhaupt nicht mehr vorkommt, es sei denn in irgendwelchen entlegenen Nischen, was für uns Provinzler dann gleich wieder bedeutet, dass wir die Werke eh nie zu sehen kriegen werden. Loach hat zwar immer unabhängiges Kino gemacht, hat aber gleichzeitig auch dafür gesorgt, dass seine Filme zu sehen sind und zwar nicht nur in exklusiven Programmsälen der Großstädte. Wenn manch einer also mit gutmütiger Herablassung bemerkt, dass er nun schon seit vier Jahrzehnten oder so das gute Gewissen, der gute alte Geist des europäischen Programmkinos sei, dann geht mir das ebenso grad am Arsch vorbei wie all jene Stimmen, die ihm seit jeher Naivität oder Schwarz-Weiß-Denken vorwerfen. Das ist für mich keine ernsthafte Form der Auseinandersetzung. Ernstzunehmender finde ich dann diejenigen, die ihn wirklich konkret auf politischer Ebene kritisieren, aber eben inhaltlich argumentieren und sich demnach im Unterschied zu den vielen Klugschwätzern auch inhaltlich mit den Filmen beschäftigt haben, und selbst wenn ich in der Sache nicht mit ihnen übereinstimme, sagen mir solche Reaktionen doch, dass die Filme zum Denken und Debattieren anregen, und genau das ist ja auch ihr Anliegen.
„I, Daniel Blake“ macht da kein Ausnahme, er hinterlässt erschütterte, betroffene Zuschauer, die dennoch sofort daran gehen werden, die hier gezeigten Verhältnisse auf die Verhältnisse in ihren jeweiligen Ländern oder Städten zu übertragen und zu fragen: Wäre das so auch bei uns möglich? Oder haben wir noch ein Stückchen mehr Sozialstaat, in dem Katastrophen wie in dem Film nicht so schnell passieren könnten? Klar ist aber, dass es so oder so ähnlich vielfach auch bei uns ist, die Auswüchse und Folgen maßloser Bürokratie, das Denken und Handeln jener, die als Sachbearbeiter oder sonstiges Teil dieser Bürokratie sind, die repräsentieren und leben. Die Frage also, ob es einem wie Daniel Blake hier in der BRD besser ergangen wäre als drüben in Newcastle, würde wenn überhaupt, dann nur sehr vorsichtig und zögern bejaht werden. Dieser Daniel Blake hat als Schreiner vierzig Jahre lang getan, was ein guter Bürger tun muss, er hat gearbeitet und seine Abgaben entrichtet, pünktlich, gewissenhaft, zuverlässig, wie das Gesetz es befiehlt. Ein Handwerker der alten Schule, geschätzt für seine Erfahrung und Zuverlässigkeit, der in Schwierigkeiten gerät, als er seine zunehmend demenzkranke Frau pflegen muss und kurz nach ihrem Tod infolge der Belastung einen Herzinfarkt erleidet. Seine Kardiologin schreibt ihn noch nicht wieder gesund, er beantragt Krankenunterstützung, und nun geht der bürokratische Malstrom los. Die Sachbearbeiterin auf der Sozialbehörde hakt routinemäßig das Antragsformular ab, ohne mit Daniel oder vor allem seiner Ärztin Kontakt aufzunehmen, und weil er seine Schuhe selbst zubinden und beide Hände über den Kopf heben kann, erreicht er nicht die notwendige Punktzahl und wird folglich für arbeitstauglich befunden. Alle Versuche, der guten Frau er erklären, dass es nicht um seine Motorik sondern einzig um sein Herz gehe, erreichen sie nicht, prallen an der Wand der Bürokratie ab. Tut mir leid, dass sind die Vorschriften, da kann ich nichts machen. Daniel gerät in ein absurdes Hamsterrad, das ihn konsequent und unaufhaltsam in die Armut treibt. Er muss nun Arbeitslosenunterstützung beantragen, doch um überhaupt Anspruch zu haben, muss er sich fürs Protokoll für Jobs bewerben, die er sowieso nicht annehmen kann. Und weil er diesen Irrsinn nicht begreifen und hinnehmen will, verhält er sich eben nicht mehr wie ein braver Antragsteller, sondern geht auch schon mal ein bisschen auf die Barrikaden, dass er sich mit den ganzen online-Formularen nicht zurechtfindet und nicht mal einen PC bedienen kann, hilft ihm auch nicht weiter. Zwischen Frust, Wut und Hilflosigkeit vergehen die Wochen, und Daniel läuft tatsächlich Gefahr, keinerlei Bezüge zu erhalten. Genauso ergeht es Katie, die von der Londoner Sozialbehörde mitsamt ihren zwei Kindern nach Newcastle umgesiedelt wurde und nun versucht, in der neuen Umgebung klarzukommen. Auch sie erlebt die Unbarmherzigkeit des Systems, und als Daniel ihr beisteht, weil er den rüden Ton der Sachbearbeiterin und des Security-Mannes unerträglich findet, raufen sich die beiden zusammen. Daniel hilft ihr mit kleineren Reparaturen in der reichlich baufälligen Sozialwohnung, die ihr zugewiesen wurde und passt auf die Kids auf, während sie nach einem Job sucht. Die Lage wird für beide aber immer auswegloser – sie landet, wie fast nicht anders zu erwarten, in der Prostitution, er legt sich noch ein paarmal mit den Betonköpfen an, dann resigniert er. Schließlich findet er doch noch Unterstützung durch einen Sozialanwalt, der durchsetzt, dass das ärztliche Gutachten endlich berücksichtigt wird, doch unmittelbar vor der entscheidenden Verhandlung stirbt Daniel an einem erneuten Herzinfarkt.
Die Botschaft, so wie Katie sie abschließend auf Daniels Armenbegräbnis ausspricht, ist schlicht und klar: Daniel ist kein Fall, keine Nummer, sein behördlicher Vorgang, sondern ein Mensch und verdient es auch, als solcher respektiert und behandelt zu werden. Abgesehen von allem anderen geht es also zuerst um die sogenannte Würde des Menschen, von der man bekanntlich irgendwo lesen kann, sie sei unantastbar. Dieser Wert, die wahrscheinlich elementarste und wichtigste Basis unseres Zusammenlebens, ist in der Tat so fundamental, dass wir ihn häufig aus dem Blick und den Gedanken verloren haben. Es ist ein unschätzbares Verdienst eines Films wie diesem, uns daran zu erinnern, uns erneut darüber klarwerden zu lassen, dass es ohne diesen Konsens kein vertrauensvolles Miteinander geben kann. Jede Diktaturerfahrung zeugt davon, aber auch beliebig viele kleinere, privatere Situationen. Und im Aufeinandertreffen von Individuum und Behörde spielt das Thema immer eine Rolle - bin ich nur eine Fallnummer, oder werden ich darüber hinaus auch als Mensch gesehen, im Falle Daniel Blakes als jemand, der gänzlich unverschuldet in Schwierigkeiten geraten ist, und der sogar ein ärztliches Gutachten vorweisen kann, mit dessen Hilfe der Fall unzweifelhaft klar und deutlich ist. Wie es dann dazu kommt, dass Daniel dennoch auf diesen grotesken Behördenmarathon geschickt wird, das kann ich mir persönlich auch bestens hierzulande vorstellen. Entgegen mancher Vorwürfe gegen seinen Film finde ich nicht, dass er alle Sachbearbeiter als herzlose Monster darstellt, es gibt durchaus die eine oder andere empathische Reaktion, doch erlaubt das rigide System an sich keine Flexibilität, keine Abweichung, weil ja sofort ein Präzedenzfall geschaffen werden könnte, der dann wiederum viele Nachahmer auf den Plan riefe. Aber niemand will ernsthaft mit Daniel sprechen, ihn nur ein einziges Mal anhören, niemand will sein Attest sehen, sich ein Bild von seiner Situation machen. Er durchläuft das System wie viele vor und nach ihm, er ist im maroden Industrienorden einer von sehr vielen Antragstellern, alle sind überlastet, überfordert, natürlich auch die Sachbearbeiter. Loach zeigt sie einerseits schon als ausführende Organe des Systems, andererseits aber auch als Opfer, denn sie müssen eine absurde und grundsätzlich ungerechte Sozialpolitik vertreten. Wie immer gelingt es ihm, eine einzelne Geschichte zu erzählen, glaubwürdige, ganz alltägliche Charaktere in einem ebenso glaubwürdigen, ganz alltäglichen Milieu zu zeigen und trotzdem politisch zu argumentieren, strukturell zu denken und über den Einzelfall hinaus das gesamte System zu betrachten. So sollte es sein. Natürlich polarisiert Loach, natürlich ergreift er Partei, vertritt er eine ganz klare Meinung, wie es jeder gute politische Film tun sollte, und natürlich regt er dadurch auch zur Auseinandersetzung, gegebenenfalls zum Widerspruch an. Täte er das nicht, hätte er das Klassenziel verfehlt.
Aber das hat er nicht. „I, Daniel Blake“ ist so kraftvoll, so bewegend und aussagestark wie die besten Ken-Loach-Filme. Er muss dazu keine spektakulären Mittel bemühen, er muss nur seine Geschichte konsequent zu Ende erzählen, muss nahe an den Menschen bleiben, sie und ihre unmittelbare Umgebung ins Zentrum der Erzählung stellen. Wie gewohnt zeigen Loach und sein angestammter Autor Paul Laverty ihr untrügliches Gespür für das Milieu und für Bilder, die auch ganz ohne Worte vollkommen für sich sprechen, und wie gewohnt haben sie ganz tolle Schauspieler für ihre Figuren gefunden, die ohne jedes Pathos unheimlich real und direkt rüberkommen. Dabei hat Loach keinen Dokumentarfilm gedreht, natürlich will er unsere Emotionen ansprechen, und einige Szenen hier brechen mir absolut das Herz. Daniels zunehmend verschlossene, resignierte blicke, oder der Moment, in dem Katie plötzlich eine Dose aufreißt und beginnt, das kalte Zeug mit den bloßen Händen in sich hineinzuschaufeln, weil sie ihren Hunger nicht mehr beherrschen kann. Es geht also nicht nur um Würde, es geht auch um die Existenz, um Not und Armut und darum, wie haarscharf sehr viele in Europa an diesem Abgrund leben, während eine kleine Elite unbeirrt von Synergie und Gewinnmaximierung faselt. Ein Film, der mir manchmal den Atem nimmt, der mich aber auch zornig macht und hilflos zugleich, weil ich glaube, dass sich an diesen Verhältnissen wohl nichts mehr ändern, im Gegenteil der Druck auf folgende Generationen eher noch steigen wird.
Falls der Ken also nicht bald wieder den Rücktritt vom Rücktritt vom Rücktritt verkündet, soll er bittebitte noch ein paar Filme in dieser Art machen, mir scheißegal, ob er sich wiederholt und immer auf den gleichen Themen rumreitet, denn man kann gar nicht oft genug sagen, was er zu sagen hat. Wieso soll uns das verflucht nochmal nichts angehen? Und wer außer Loach bringt mit solcher Konstanz und Qualität diese Themen überhaupt noch ins Kino? Sobald sich der oder die findet, darf der Knabe dann sofort in den wohlverdienten Ruhestand eintreten… (14.12.)