Julieta von Pedro Almodóvar. Spanien, 2016. Emma Suárez, Adriana Ugarte, Daniel Grao, Inma Cuesta, Darío Grandinetti, Rossy de Palma, Susi Sánchez, Michelle Jenner, Blanca Parés

   Als Julieta nach über zwölf Jahren wieder von ihrer Tochter hört, die scheinbar mit Familie am Comer See lebt, da schmeißt sie zum wiederholten Male ihre gesamten Lebenspläne um, und statt mit ihrem Freund wie geplant nach Portugal zu gehen, bleibt sie in Madrid, schreibt, erinnert sich. Daran, wie sie ihre große Liebe, den Fischer Xoan im Zug kennenlernt und schließlich raus zu ihm an die Küste zieht. Daran, wie dessen schwerkranke Frau schließlich stirbt und den Weg für sie freimacht. An die schwierige Anfangszeit mit Xoans guter Freundin Ava, die ganz offenbar noch immer seine Geliebte ist, und mit der strengen Haushälterin, die die junge Frau zunächst nicht ernst nimmt. An die glückliche Zeit zu dritt mit der kleinen Antia, eine Zeit, die in dem Moment endet, da Xoan nach einem Streit bei drohendem Sturm hinausfährt aufs Meer und dort tödlich verunglückt. An ihre maßlose Trauer, die tiefe Depression, die Hilflosigkeit Antias, die als junges Mädchen überfordert ist mit der kranken Mutter, bis sie eines Tages als Achtzehnjährige ihre Koffer packt, eigentlich nur zu einem Seminar in die Pyrenäen fährt, von dort aber nicht mehr zurückkehrt, und für zwölf Jahre spurlos zu verschwinden, bis ihre ehemals beste Freundin Bea sie zufällig in Como trifft und kurz darauf Julieta davon in Madrid erzählt und damit alles wieder hochspült. Julieta ist entschlossen, ihre Tochter zu treffen, alles wieder gutzumachen, und sie macht sich auf den Weg ins Tessin, begleitet von ihrem Freund Lorenzo, der eben doch ein typischer Almodóvar-Mann ist, also so verständnisvoll wie keiner im richtigen Leben.

   Zunächst mal ist Señor Almodóvar seit sehr vielen Jahren der unbestrittene Spezialist für Frauenfilme – überlebensgroß, empathisch, stürmisch, wunderbar. Zum zweiten ist er seit genauso langer Zeit der unbestrittene Spezialist für große Melodramen. Die sind gar nicht leicht zu machen, das können nur wenige, und niemand in neuerer Zeitrechnung kann das so gut die der alte Pedro. Melodramen fallen fast regelmäßig zur einen oder anderen Seite runter – entweder sind sie zu kitschig und rührselig, zu banal oder klischeehaft, zu überzogen und lächerlich. Den richtigen Ton zu treffen bedeutet, auf einem sehr schmalen Grat zu wandeln und sich vor allem was zu trauen. Gelingt es, erlebt der geneigte Zuschauer einen hinreißenden und überaus bewegenden Kinoabend, der ihn zumindest für zwei Stunden mal komplett aus jeglicher Realität enthebt. Almodóvar kann das, konnte es immer, und nach über fünfunddreißig Dienstjahren und mittlerweile zwanzig Filmen hat er seine Kunst auf großartige Weise perfektioniert, hat sie all der schrillen und hyperaktiven Töne der frühen Filme entkleidet, wirkt heute sehr viel souveräner, selbstsicherer, ernsthafter, ohne damit auch nur für einen Moment seine spezifische künstlerische Identität verraten zu haben. Denn unkonventionell und im Detail herausfordernd sind seine Geschichten noch immer, werden sie vermutlich immer sein.

 

   Er fordert absolute Solidarität für seine Figuren, so wie er selbst sie zeigt. Figuren, die getrieben werden von Sehnsüchten, Begierden, Obsessionen, auch Ängsten, Trauer, Wut. Das Leben, die Liebe, der Tod, es geht nur um‘s ganz Elementare in Almodóvars besten Filmen, wobei vor allem die Liebe immer wieder andere, farbige, manchmal auch recht schräge Ausprägungen zeigt. Diesmal haben wir es eigentlich nur mit verhältnismäßig konventionellen Mann-Frau-Beziehungen zu tun, durchaus leidenschaftlich natürlich, und mit einer Trauer, die im buchstäblichen Sinn überwältigend ist und dafür sorgt, dass Julieta ihr Leben nicht mehr im Griff hat und ihrer Antia keine Mutter mehr sein kann. Es wird viel geredet, viel erzählt, Julieta ergänzt im Off bei Bedarf aus ihrer Erinnerung, der Kern ihrer Geschichte jedoch bleibt obskur, spekulativ, rätselhaft, von Gerüchten begleitet. Was hat Antia dazu bewogen, sich endgültig von ihrer Mutter trennen zu wollen? Was hat sie in den verlorenen zwölf Jahren erlebt? Wieso beschreibt Bea ihre zufällige Begegnung in Como als so unangenehm? Was hat die intensive Zeit mit ihrer schwer depressiven, kaum noch lebensfähigen Mutter in ihr angerichtet? Almodóvar gibt natürlich kein Antworten darauf, er will uns nicht mal auffordern, selbst danach zu suchen. Er ist kein Analytiker, sein Psychologe, er möchte nur, dass der Film so auf uns wirkt, wie er ist. Er rückt Julieta in ihren verschiedenen Erscheinungen so nah ans uns heran wie möglich, er möchte, dass wir mit ihr fühlen, mit ihr lieben und trauern, und uns weniger darum kümmern, ob wir sie nun für irgendetwas verurteilen müssten oder wie wir ihr Verhalten erklären oder bewerten sollen. Und weil er seine Kunst mittlerweile so vollendet beherrscht, gelingt ihm das einmal mehr mit Leichtigkeit. „Julieta“ ist von intensiver Schönheit, Eleganz, zugleich emotional sehr bewegend und doch irgendwie leicht, in beiden Hauptrollen von Emma Suárez und Adriana Ugarte sehr stark gespielt. Immer noch beeindruckt mich, mit welcher Haltung sich Almodóvar seinen Figuren und ihren jeweiligen Geschichten zuneigt, und wie es ihm nun auch gelingt, ohne die ganzen wüsten Provokationen von einst dennoch hochgradig ausdrucksvolles, menschliches, wunderschönes Kino zu machen. Wolln wir mal hoffen, dass er seinem Werk noch das eine oder andere Kapitel hinzufügen wird… (15.8.)