Junges Licht von Adolf Winkelmann. BRD, 2015. Oscar Brose, Charly Hübner, Lina Beckmann, Greta Sophie Schmidt, Stephan Kampwirth, Peter Lohmeyer, Ludger Pistor, Nina Petri, Caroline Peters
Julian ist zwölf, bald dreizehn, und lebt mit Mama, Papa und Schwester im Pütt mit Blick auf Stahlwerk und Kokerei. Wir schreiben die frühen 60er, der Pütt ist noch nicht tot. Papa macht Schicht unter Tage, Mama macht den Haushalt, Julian geht zur Schule, nimmt sich aber gelegentlich frei, um einfach so herum zu stromern, zwischen Gleisen, Waggons und anderswo. Er will in einer Bande aufgenommen werden, doch die Jungs sind eine Nummer zu groß und zu derb für ihn. Der Nachbar Gorny, dem das ganze Mietshaus gehört, ist latent pädophil und leiht ihm eine Kamera, damit er kleine Jungs fotografiert, Julian fotografiert aber lieber Tiere, oder Maruscha von nebenan, die ist fünfzehn, bald sechzehn und ziemlich proper und weiß das auch ganz genau. Mama verliert langsam aber sicher die Nerven, drischt regelmäßig Holzkochlöffel auf Julian kaputt und muss schließlich an die See fahren, weil was mit den Nerven ist, Gefühle oder so. Sie nimmt die Tochter mit, also müssen Julian und Papa allein klarkommen. Eines Sonntags gehen sie rüber zu Papas Arbeitskollegen, nehmen Maruscha mit, und saufen ordentlich. Ein paar Tage später kriegt Julian mit, wie Papa aus Maruschas Fenster klettert, und dann wird alles anders. Gorny, der auch Maruschas Stiefvater ist, schmeißt die Familie raus, Mama kommt zurück und ist noch genauso gestresst wie vorher, nur Julian wehrt sich plötzlich, als sie den Kochlöffel rausholt, und er ist stärker als sie. Er packt seine Sachen und will abhauen. Papa macht ihm klar, dass Abhauen keine Option ist: Wär zwar schön, geht aber nicht. Am Schluss sieht man Julian, wie er Papa auf dem Rad den Berg rauf schiebt, zwischendurch hinfällt, sich wieder aufrappelt und weiter schiebt, bis sie über den Berg und außer Sicht sind.
Ewigkeiten nichts gehört oder gesehen von Adolf Winkelmann seit seinen großartigen Ruhrpottfilmen aus den späten Siebzigern bzw. frühen Achtzigern und dem etwas weniger gelungenen Fußballfilm Mitte der Neunziger. Schön zu wissen, dass es ihn noch gibt, und wenn er schon nicht über den Ruhrpott heutzutage zu sagen weiß, dann wenigstens diese schöne coming-of-age-Geschichte aus einer fernen fernen Zeit, da sich das Leben dort offenbar ganz im Rhythmus der Industrie abspielte, das Milieu ganz den Menschen darin beherrschte und prägte. Der Himmel war selten blau, noch seltener hell, meistens quoll irgendein Dampf über die Siedlungen (gut, dass Mama keine Wäsche draußen hängen hat), nachts war der Himmel oft rot oder orange und der Lärm der Betriebe war allgegenwärtig, ebenso wie das erdbebenartige Grummeln, wenn mal irgendwo tief unter was sackte oder rutschte. Coming of age hieß zu allen Zeiten, sich an Vorbildern abzuarbeiten, gemeinhin an elterlichen Vorbildern, und das bedeutete zugleich, dass diese Vorbilder sämtlich mehr oder wenig beschädigt waren, ihr eigenen Leben kaum auf die Reihe kriegten und schon deshalb als Vorbilder nicht eigentlich geeignet waren. Diese Vorbilder waren immer schon dazu da, die Jungen daran zu erinnern, dass sie ihren Weg selbst finden mussten inklusive aller Fehler, Irrtümer und Umwege, und dass ihnen niemand irgendetwas davon abnehmen könnte. So gesehen sagt uns dieser Film nichts Neues, und abgesehen vom rein inhaltlichen sagt er uns auch nichts Neues. Julians Papa Walter ist eine Art Prototyp des Bergmannes, ebenso wie Julians Mama Liesel ein Prototyp der Ehefrau und Mutter ist, und überhaupt sind die meisten Leute in diesem Film Prototypen, aber das stört mich hier kein bisschen, denn Winkelmann hat die Klischees genommen und mit Leben gefüllt, hat auch die sorgsam ausgestatteten Settings mit Leben gefüllt, hat vor allem dafür gesorgt, dass hier keine wohlfeile Nostalgie betrieben wird und kein nettes Wohlfühlkino stattfindet. Die Ausstattung dient eher dazu, Enge und Beklommenheit zu verbreiten, die tristen Bergarbeitersiedlungen haben nichts Niedliches an sich, die Leute, die sie bewohnen, erst recht nicht. Dazu hat Winkelmann natürlich auch tolle Schauspieler gefunden, deren Präsenz und Authentizität sich einfach über alle Stereotypen hinwegsetzen. Auch der junge Oscar Brose ist beeindruckend als Julian, findet genau den richtigen Ton zwischen Neugier, Schüchternheit, Aufbegehren und Verunsicherung, ein Junge, der seinen Weg sucht, umgeben von Erwachsenen, die ihren ständig zu verlieren drohen. So wie der Vater, den Charly Hübner grandios verkörpert, der ihm aber immerhin die entscheidende Botschaft mit auf den Weg gibt.
Um unsere Erwartungen an ein schön pittoreskes Stück Historie noch gründlicher zu unterlaufen, sind Winkelmann und sein kongenialer Kameramann zudem auf die Idee gekommen, ständig mit Bildformat und Farbgebung zu spielen, gehen abwechselnd auf Schwarzweiß oder Farbe, machen die Räume mal enger und mal öffnen sie sie wieder. Ich habe für meinen Geschmack ein wenig zu viel Zeit damit verbracht, mir Gedanken über den tieferen Sinn dieser Maßnahme zu machen, was mich vielleicht hier und da abgelenkt hat vom eigentlich Wichtigen, und wenn all das wirklich nur dazu dienen sollte, vom gängigen Mainstream abzulenken, finde ich die Idee ein wenig schräg, aber was soll’s. Die Optik ist durchweg bestechend, die Dramaturgie ziemlich schnipselig mit immer wieder eingefügten kurzen Episoden und Impressionen, und gerade als ich dachte, naja, nun zockelt die Story so dahin, klettert Paps aus Maruschas Fenster, und alles kriegt eine ganz neue Dynamik, vor allem natürlich Julians Bild vom bewunderten Vater, damit auch unser Bild von ihm. Risse hatte es zuvor schon gekriegt, bei der Art, wie er mit der nervlich zerrütteten Gattin umspringt, doch irgendwie war man wie Julian geneigt, Verständnis aufzubringen, genau wie für die kochlöffelschwingende Mama, die halt auch nicht aus ihrer Haut kann. So baut das Drehbuch immer wieder ein paar Abgründe ein, gibt den Figuren Ecken und Kanten, erzählt auch nicht alles zu Ende, und wenn Vater und Sohn schließlich um die Ecke verschwinden, weiß man schon, dass alles erstmal so weiter geht, bis sich Julian in einigen Jahren vermutlich emanzipiert haben wird.
Alles in allem schönes, sperriges Milieukino, und wie gesagt vor allem schön, mal wieder vom alten Püttchronisten gehört zu haben. Und vielleicht dauert’s nicht wieder so viele Jahre und so viele mäßige TV-Produktionen bis zum nächsten Mal… (13.5.)