Nebel im August von Kai Wessel. BRD/Österreich, 2016. Ivo Pietzcker, Jule Hermann, Sebastian Koch, Fritzi Haberlandt, Henriette Confurius, Thomas Schubert, Branko Samarovski, Carla Karsten, David Bennent, Karl Markovics
Die Geschichte von Ernst Lossa, der als 13-jähriger, notorisch schwer erziehbarer Junge in einer Heil- und Nervenanstalt landet, die von Dr. Veithausen geleitet wird. Veithausen, ein verständnisvoller, sympathischer Mann, will Ernst eine letzte Chance geben, glaubt an dessen Möglichkeit, doch noch ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden zu können. Ernst ist Halbwaise, Jenischer, sein Vater ist fahrender Händler ohne festen Wohnsitz, und wie Dr. Veithausen ihm bedauernd erläutert, benötigt er zunächst eine Meldebescheinigung, bevor er ihm den Sohn aushändigen darf. Vorschriften, Sie verstehen. Also beschwört der Vater Ernst, noch ein paar Wochen auszuhalten, bis er ihn holen kommt, denn Ernst träumt davon, mit dem Vater zusammen nach Amerika zu gehen. In der Anstalt will es Ernst jedenfalls nicht lange aushalten. Alle Insassen sind krank oder verrückt, und in regelmäßigen Abständen werden einige von ihnen in einen Bus verfrachtet, weggebracht, und kommen nicht zurück. Es ist 1944, und hoch oben ziehen bereits die alliierten Bomber durch. Dr. Veithausen kriegt Abweisung von ganz oben. Das bislang durchgeführte, als „Euthanasie“ getarnte Mordprogramm T-4 wird eingestellt, eine direktere Form der „Sterbehilfe“, die sogenannte „Wilde Euthanasie“ soll fortan praktiziert werden. Ein Uniformierter bringt es gutgelaunt auf den Punkt: Es muss wieder mehr gestorben werden. Der eifrige Dr. Veithausen macht sich so seine Gedanken. Die aktuell verwendete Phenobarbital-Spritze ist einfach irgendwie nicht so schön, und wem soll man schon zumuten, ständig Kinder damit totzuspritzen. Immerhin hat er Hilfe in Gestalt der jungen Schwester Edith bekommen, die zuvor in der Hauptanstalt Kaufbeuren und einigen anderen Einrichtungen tätig gewesen war und viel praktische Erfahrung mit dieser neuen offensiven Mordtechnik hat. Sie versüßt den Kindern ihren Tod mit Himbeersaft, doch irgendwann kriegen Ernst und ein paar andere Wind davon und die Atmosphäre verschärft sich. Vor allem Ernst gebärdet sich renitent, stiftet die anderen zum Aufruhr an, will unbedingt abhauen und lernt Nandl kennen, ein schmales blondes epileptisches Mädchen, das er gern mit nach Amerika nehmen möchte. Dr. Veithausens Überlegungen fruchten schließlich: Er erfindet eine Suppe mit Gemüse, dem man durch endloses Abkochen jegliche Nährstoffe entzogen hat. Die Kinder verhungern langsam, obwohl sie regelmäßige Mahlzeiten bekommen. Für diese elegante, diskrete Lösung, die nach offiziellem Sprachgebrauch „Entzugskost“ oder, noch schicker, „E-Kost“ genannt wird, bekommt Veithausen heftiges Schulterklopfen. Schwester Edith ist allerdings auch weiterhin mit dem Himbeersaft unterwegs, und Ernst weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Ein erster Bombenangriff trifft die Anstalt, und Ernst will die Situation nutzen, um mit Nandl zusammen zu fliehen. Doch Nandl wird auch verletzt, und im Krankentrakt, wo Ernst im Zimmer neben ihr untergebracht wird, ereilt ihn dann doch die tödliche Dosis.
Noch schöner fast, wie häufig in diesen Fällen, sind die knappen Sätze im Nachspann: Dr. Veithausen – im realen Leben hieß er Faltlhauser – wurde zwar angeklagt und verurteilt, doch später für schuldunfähig eingestuft und begnadigt. Schwester Edith - auch sie liegt einer realen Figur zugrunde – wurde für die nachgewiesene aktive Tötung von mindestens 200 Menschen allein in Irsee (!) zu vier Jahren (!!) Haft verurteilt, von denen ihr alsbald drei Jahre (!!!) erlassen wurden, sodass sie nach nur einem Jahr wieder auf freien Fuß kam und ihren erlernten Beruf als Kinderkrankenschwester wieder aufnehmen konnte. Hach ja, Deutschland. Gar keine Frage, die grauenhaften Verbrechen der Nazis und all ihrer zahllosen Helfer und Helfershelfer sind schockierend und verstörend, auch noch nach siebzig Jahren. Genauso schockierend und verstörend ist für mich aber, was nach dem Krieg aus ihnen wurde, wie eine ganze Gesellschaft einfach den Deckel draufgemacht, einen Strich druntergezogen und dafür gesorgt hat, dass hunderte, tausende Mörder (egal, wie aktiv oder passiv) nicht nur ungeschoren blieben, sondern sich fast bruchlos als Funktionsträger der neuen Demokratie eingliedern konnten. Für den Naziwahn scheint es immerhin irgendwie eine Art von Erklärung zu geben, doch für das, was danach in dieser Hinsicht (Was sie waren, was sie wurden) passierte, will mir keine einleuchtende in den Sinn kommen.
Kai Wessel ist ein typisch deutscher Regisseur, ein gewissenhafter Handwerker zwischen TV und Kino (deutlich mehr allerdings TV), dessen Filme inhaltlich fast immer interessanter sind als formal. Das gilt für „Nebel im August“ uneingeschränkt genauso, bedeutet aber nicht, dass dies ein schlechter oder unbefriedigender Film ist. Wessel tut, was er tun muss, er erzählt angenehm zurückhaltend, vermeidet alles Spekulative und nimmt sich tatsächlich zwei Stunden Zeit, um die Zeit Ernst Lossas in der Anstalt Irsee zu beleuchten, zum einen aus seiner Sicht, zum anderen aus der Sicht der Täter. Erstgenannte ist vergleichsweise überschaubar – ein sperriger, misstrauischer, unzugänglicher Junge mit schlimmer Vorgeschichte, Angehöriger einer von den Nazis verfolgten Volksgruppe, einer der gelernt hat, nach eigenen Regeln und nur für sich zu kämpfen. Er ist einer der wenigen Kinder und Jugendlichen in der Anstalt, die letztlich imstande sind, die Fassade zu durchschauen, vor allem die Fassade Veithausers. Damit wäre dann die Täterperspektive, die in diesem Film interessantere, angesprochen. Veithauser repräsentiert den Typus „freundlicher Massenmörder“, ein milder, kultivierter, durchaus empathischer Mann, dem über all das allerdings seine Pflichterfüllung und sein beruflicher Ehrgeiz gehen. Wie vielen anderen Nazimördern auch ist es ihm gelungen, diese Pflichterfüllung abzuspalten von dem, wozu sie ihn zwingt, nämlich Menschen zu töten, massenweise, systematisch, grausam. Wessels Film bringt dafür etliche Beispiel und zeigt sehr einprägsam, wie wichtig bei diesem Prozess die deutsche Sprachregelung war, die auch im Falle der Euthanasie zu voller Wirkung kam. „Gnade“, „Erlösung“, „Hilfe“, „Menschlichkeit“ und ähnliche Vokabeln dienen der Rechtfertigung, gefolgt von jeder Menge technischer Begriffe, die die Durchführung betreffen und ebenfalls verschleiern, dass es hier um den Mord an wehrlosen Opfern geht. Der Film zeigt Menschen, die sich dem „Problem“ Euthanasie mit dem gebotenen Ernst und Eifer widmen, nicht müde werden, effektive, saubere Methoden zu finden, um mit möglichst wenig Aufwand möglichst viele Menschen töten zu können. Als dann die Operation T-4 in die „Wilde Euthanasie“ überführt wird, offenbaren sich typische Reaktionen, die im Film anhand dreier Hauptfiguren exemplarisch vorgestellt werden. Dr. Veithausen ist der Pragmatiker, dem es zwar nicht gefällt, dass das Morden nun sehr viel näher rückt, sogar in seine eigene Einrichtung, doch eigentlich macht das für ihn keinen moralischen Unterschied, denn früher hat er die Listen mit denen gemacht, die in die grauen Busse verladen und damit in die Gaskammer transportiert wurden, nun macht er die Listen derjenigen, die durch die Injektion getötet werden. Nur der entstehende Aufwand und die vergleichsweise geringe Effektivität beunruhigen ihn. Schwester Edith ist eine eiskalte Mörderin, die damit auch keinerlei Schwierigkeiten hat, weil sie als überzeugte Nationalsozialistin auch von dem Euthanasieprogramm vollauf überzeugt ist. Sie verhält sich milde und freundlich zu den Kindern und tötet sie ohne die geringsten sichtbaren Gewissensbisse. Sie ist das ideale Werkzeug, loyal bis zuletzt und ohne irgendwelche Zweifel. Dann gibt es da noch Schwester Sophie, einen etwas komplexeren Fall, eine Krankenschwester der alten Schule, eine, die ganz genau weiß, was vor sich geht, was es bedeutet, wenn die Anstaltsinsassen in die grauen Busse gebracht werden, und die das solange noch mitträgt, wie es relativ fern von ihr bleibt. Sobald das Morden aber direkt vor ihren Augen stattfindet und Schwester Edith mit dem Himbeersirup umgeht, regt sich in ihr eine unvermutete Empörung, die so weit geht, dass sie ein kleines Mädchen rettet und versteckt, dann allerdings beim Bombenangriff mit dem Mädchen zusammen stirbt. Schwester Sophie scheint stellvertretend für sehr viele Zeitgenossen zu sein – ich weiß zwar, dass nicht alles mit rechten Dingen zugeht, doch solange ich es nicht mit eigenen Augen ganz genau sehe, kann ich es irgendwie wegschieben, verdrängen. Sie unterdrückt ihr Unbehagen, arbeitet weiter im System, trägt und unterstützt es dadurch. Eine klassische Mitläuferin, vielleicht nicht gerade eine aktive Stütze der Mordmaschinerie, doch auf ihre Art fast ebenso wertvoll, denn man stellt sich leicht vor, dass Millionen solcher Mitläufer der Diktatur ein sehr sicheres, solides Fundament gebildet haben.
Wessels Regie ist gänzlich uneitel, unauffällig, was man je nach Gusto positiv oder negativ bewerten kann. Jedenfalls verstellt er und zu keiner Zeit den Blick auf die Dinge, bleibt ruhig und konzentriert, und das hat mir schon gefallen. Viel besser haben mir aber noch die Schauspieler gefallen, die sämtlich ganz hervorragend sind und absolut dafür sorgen, dass „Nebel im August“ zu keiner Zeit an eine jener Geschichts-Seifenopern erinnert, die man leider auch häufiger im deutschen TV zu sehen bekommt. Geschichten aus dem Krieg wird es noch unendlich viele geben, und viele von ihnen sind auch heute mehr als relevant, nur kommt’s eben drauf an, wie sie aufbereitet werden, und das läuft leider nicht immer ganz so seriös wie in diesem Fall. Und da ist mir einer wie Kai Wessel allemal lieber als irgendein selbstverliebter Filmemacher – da weiß ich wenigstens, was ich habe, der nimmt sich nicht wichtiger als die Geschichte, die er erzählen möchte. (5.10.)