Room (Raum) von Lenny Abrahamson. Kanada/Irland, 2015. Brie Larson, Jacob Tremblay, Joan Allen, Tom McCamus, Sean Bridgers, William H. Macey

   Als Siebzehnjährige wird Joy von einem Mann gekidnappt, in einem präparierten Gartenhäuschen gefangen gehalten und regelmäßig vergewaltigt. Nach zwei Jahren wird der Sohn Jack geboren, Joy nennt ihren Vergewaltiger, den sie nicht kennt, fortan Old Nick, und jedesmal, wenn Old Nick zu „Besuch“ kommt, muss Jack im Kleiderschrank schlafen. Mehrere Ausbruchsversuche scheitern, doch schließlich gelingt es Joy, ihren Sohn aus dem Gefängnis herauszubekommen, und mit viel Glück schafft er es wiederum, einen Passanten auf sich aufmerksam zu machen und Old Nick in die Flucht zu schlagen. Die beiden werden befreit, doch nach sieben Jahren Gefangenschaft ist das Leben in „Freiheit“ schwer, besonders für Joy, die mit schweren traumatischen Störungen kämpft, und die Unterstützung ihrer Mutter und ihres neuen Lebensgefährten zunächst nicht annehmen kann. Jack gewöhnt sich schneller ein, nachdem er die anfängliche Reizüberflutung bewältigt hat, und als die beiden sich gemeinsam von ihrem „Raum“ verabschiedet haben, sieht es so aus, als könnten sie wieder nach vorn schauen.

   Man weiß nur zu gut, dass die triste Realität eine Story wie diese längst überholt hat – leider gibt es so viele kranke Männer, die Frauen Furchtbares antun, und leider gibt es so viele gierige Medien, die diese Geschichten bis über die Grenze der Zumutbarkeit ausschlachten. Der Fokus dieses Films liegt eher nicht auf diesem Thema, er dreht sich zumindest ab der zweiten Hälfte um Joys und Jacks Versuche, zurück ins Leben zu finden. Das erste Drittel aber gehört mindestens dem Raum, einem klaustrophobischen, trostlosen kleinen Raum mit einem Oberlicht hoch oben, durch das man den Wechsel der Tages- und Jahreszeiten erahnen kann, und sonst nichts. Keine Fenster, keine Geräusche, nur ein TV-Gerät, kein Kontakt zur Außenwelt, totale, schreckliche Isolation. Vor allem Joys Gefühlslage wird sehr eindringlich und eindrucksvoll beschrieben, ihre völlige Konzentration auf Jacks Wohl, ihr Versuch, ihm diesen völlig reduzierten Lebensraum irgendwie zu erklären, ihm eine Art Weltbild zu vermitteln, das zumeist mit dem Fernsehen zu tun hat, ihn zu beschützen, ihn zu beruhigen, ihn zu unterhalten. Stark zu sein, obwohl sie unter Mangelernährung und Depressionen leidet und voller Angst und Stress auf den nächsten Besuch des Vergewaltigers wartet. Hier hat Brie Larson ihre stärksten, intensivsten Szenen, und sie spielt wirklich großartig, während sie im zweiten Teil ein wenig in den Hintergrund tritt, nur gelegentlich durch ihre abweisenden, aggressiven Auftritte der Mutter gegenüber auffällt. Ihre Eltern haben sich mittlerweile getrennt, der Vater flüchtet in Arbeit, kann oder will sich emotional nicht mit der Rückkehr seiner Tochter und erst recht nicht seines Enkelsohns auseinandersetzen. Er kann Jack nicht einmal ansehen, sieht ihn vermutlich als Strafe, als Schande, und vielleicht gibt er sogar Joy einen Teil der Schuld dafür. Ein überforderter, kommunikationsunfähiger Mann. Joys Mutter Nancy wirkt auch eher distanziert, doch sie bleibt am Ball, kontert die Vorwürfe ihrer Tochter nur gelegentlich mit dem Hinweis, dass auch sie einiges durchmachen mussten in den letzten sieben Jahren, und versucht vor allem, sich Jack anzunähern, ihm ein Gefühl von Familie und Zuhause zu geben, als Joy dazu nicht in der Lage ist, nach einem erniedrigenden TV-Interview und einem sich daran anschließenden Suizidversuch in die Klinik muss und erstmal Zeit für sich benötigt. Auch Nancy scheint sich ihrer Gefühl Joy gegenüber keineswegs ganz sicher zu sein, doch anders als ihr Ex-Mann hat sie die Kraft, ihre Leere und Erschöpfung zu überwinden, vor allem weil ihr klar ist, dass sie jetzt besonders gebraucht wird. Dennoch ist es vor allem ihr neuer Partner Leo, der mit Hilfe seines Hundes als erster das Eis bricht und zu Jack durchdringen kann. Jack muss in kurzer Zeit alles lernen, was er in den vergangenen fünf Jahren seines Lebens nicht lernen konnte. Da sein gesamtes bisheriges Bild vornehmlich aus dem Fernsehen stammt, muss er erstmal einmal verstehen, was echt ist und was nicht, er muss zunächst einmal räumlich und gedanklich erfassen, dass es überhaupt so etwas wie eine Welt gibt. Bislang gab es nur den Raum und außerhalb des Raums war das Weltall, und nun sind da Lichter, Farben, Geräusche, die seine Sinne völlig überfordern, und als Joy als sicherer Haltpunkt vorübergehend verloren geht, gerät er in Schwierigkeiten. Es ist sehr beeindruckend zu sehen, wie er all seine Ressourcen mobilisiert, um nicht unterzugehen, um in der für ihn ganz neuen Welt zurechtzukommen, und ich hätte sehr gern noch mehrere Szenen in dieser Art gesehen. Wenn ich dem Film überhaupt etwas vorwerfen wollte, dann ist es eben das, das er diesen faszinierenden, extrem emotionalen Prozess nicht noch ausführlicher schildert, denn gerade Joy hat ja auf sehr vielen Ebenen zu kämpfen – mit sich selbst, ihrer Familie, den Medien und den Folgen des Traumas nach jahrelanger Isolation und Misshandlung, die immer nur ansatzweise zur Sprache kommen. Hier finde ich, das der erste Teil des Films ein wenig dichter, konsistenter ist, doch das mag auch dadurch bedingt sein, dass er sich auf einen einzigen Schauplatz, auf eine einzige Situation und auf zwei Personen konzentrieren kann, während sich der zweite Teil gezwungernermaßen öffnen und andere Themen, andere Personen integrieren muss. Sehr schön wird dann aber Jacks Abnabelungsprozess gezeigt, der Moment, in dem er plötzlich die Regie über sein Leben übernimmt und auch Joy ein wenig aus der erdrückenden, übermächtigen Verantwortung entlässt. Er hat plötzlich einen Freund, er kann sich selbst beschäftigen, sie muss nicht mehr rund um Uhr bei ihm und um ihn herum sein. Auch die Idee, den Raum noch einmal zu sehen, um vielleicht endgültig damit abschließen zu können, stammt von ihm, extrem erwachsen für einen kleinen Jungen, könnte man sagen, und auch diese Szene wird sehr schön inszeniert. Plötzlich ist der Raum doch so klein, und einst war er die ganze Welt. Nun kann auch Jack ihn als das sehen, was er immer war, ein enges, tristes, bedrückendes Gefängnis, und mag er auch in gewisser Weise Sicherheit gegeben haben, so hat er doch mit dem wahren Leben nichts zu tun. Ein Abschied, der notwendig ist, um sich abzuwenden, dem wahren Leben zuzuwenden.

 

   Ein Drama, das in seiner beeindruckenden Intensität lange nachwirkt, sehr gefühlvoll und zugleich auch zurückhaltend inszeniert, von den beiden Hauptdarstellern, aber auch den Nebendarstellern bravourös interpretiert, zugleich bestechend physisches und psychologisches Kino, das sehr folgerichtig eine Independentproduktion ist, denn im Mainstream hat solch starker Stoff kaum einmal eine Chance. (5.4.)