Fuoco ammare (Seefeuer) von Gianfranco Rosi. Italien/Frankreich, 2015.

   Die unfassbare humanitäre Katastrophe, die sich zwischen Nordafrika und Südeuropa Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat abspielt und die schon so viele tausend Menschenleben forderte, macht uns wahrscheinlich so hilflos, weil es scheinbar gar keine Antwort, keine Lösung dafür zu geben scheint. Festung Europa hin oder her, selbst wenn sämtliche Grenzen geöffnet würden und alle Länder plötzlich bereit wären, Flüchtlinge aufzunehmen (was natürlich für immer ein schöner Traum bleiben wird) bleibt die Frage, ob die Katastrophe damit dauerhaft abgewendet werden könnte, solange niemand in der Lage ist, die Ursachen zu bekämpfen und jene grausam skrupellosen Mittelsleute, die am Elend der Flüchtlinge auch noch verdienen und maßgeblich für ihr Sterben verantwortlich sind. Solange dies nicht geschieht, bleiben alle Maßnahmen nur Reaktionen, die möglicherweise Schlimmeres verhüten, aber nichts Grundsätzliches bewirken können. Wie geht unsereiner damit um? Verdrängung meistenteils, muss ich ehrlich gestehen, Betroffenheit angesichts immer neuer Horrormeldungen, wenig Hoffnung darauf, dass sich unsere europäischen Bürokraten irgendwann mal auf irgendwas Anständiges einigen wollen, noch weniger Hoffnung darauf, dass unsere europäischen Bürokraten imstande sind, den ankommenden Flüchtlingen effektive und zeitnahe Hilfe zu organisieren und dass unsere Wohlstandsgesellschaften bereit sind, dies zu ertragen bzw. mitzutragen.

   All dies schwingt mit, wenn ich diesen Film sehe, doch „Seefeuer“ selbst löst nur einen vergleichsweise geringen Teil dieser Gedanken aus. Sicherlich der Dokumentarfilm zur Zeit, obwohl das Etikett „Dokumentarfilm“ in diesem Fall meiner Ansicht nach sehr vorsichtig verwendet werden sollte, sicherlich ein Film, der das aktuell vielleicht drängendste Thema behandelt, und damit an sich ein Statement abgibt, keine Frage. Aber ist es auch ein wirklich guter, seinem Thema angemessener Film? Schwer zu sagen, finde ich, aber ohne ihn jetzt gleich in Bausch und Bogen verteufeln zu wollen, würde ich doch sagen, dass er mich persönlich nicht im erwarteten Maße getroffen oder beeindruckt hat.

 

   Maßgeblich schuld daran ist die eigenartige Zweiteilung, die Rosi vornimmt, wenn er vom Leben aus Lampedusa berichtet – bzw. ein paar Szenen spielen lässt. Er wechselt hin und her zwischen Szenen aus dem Dorfleben der Einwohner, eines Jungen, seiner Familie, eines Radiodiscjockeys, einer alleinstehenden älteren Dane, eines Arztes undsoweiter, und Szenen aus dem Alltag der Rettungsmannschaften zu Wasser und in der Luft, die fast täglich mit halbwegs havarierten Booten, zahlreichen Leichen und erschöpften, kranken, verzweifelten Menschen aus Syrien, Nigeria, Eritrea und anderen Ländern konfrontiert werden. Diese Passagen, und nur die, sind wirklich so, wie ich es erwartet (und zugleich befürchtet) hatte – erschütternde Bilder von Leid, Tod und Verzweiflung, für die man keine Worte braucht, für die es auch gar keine Worte gibt, denn allein in den Gesichtern und Körpern der Flüchtlinge zeichnet sich ansatzweise ab, was sie durchgemacht haben müssen. Hier erreicht Rosi ein hohes Maß an Aussagekraft, findet den richtigen Ton, lässt den Menschen ihre Würde, verzichtet sowohl auf billiges Mitleid als auch auf billiges Pathos. Die andere Hälfte hat mich bis zuletzt irritiert, ich konnte Rosis Absichten einfach nicht recht festmachen. Ein Junge baut eine Steinschleuder, geht zusammen mit seinem Kumpel auf Vogeljagd, ballert auf Kakteen, tut sich im Englischunterrichtet schwer, ist beim Augenarzt wegen eines trägen Auges in Behandlung, beim Hausarzt wegen immer wieder auftretender Atemprobleme, kotzt, als Papa ihn zum Fischfang mit raus nimmt, übt dann aber abends auf dem schwankenden Bootssteg, weil halt alle Männer auf Lampedusa Seeleute sind. Der DJ erfüllt Hörerwünsche und lässt alte Schnulzen erklingen, eine Frau bereitet Kalamari mit Spaghetti zu, eine andere macht das Bett, küsst nacheinander das Bild ihres Mannes, eine Papststatue, eine Marienstatue, ein Taucher sucht nach Schwämmen. Ausschnitte aus dem täglichen,. Dem ganz normalen Leben, ohne Anfang und Ende, ohne einen Fokus oder ein besonderes Thema. Es hätten vermutlich auch andere Leute, andere Szenen sein können. Flüchtlinge sind zu keiner Zeit ein Thema für diese Menschen, werden nie auch nur erwähnt, es wirkt fast so, als finde das tägliche Drama ganz woanders statt. Soll dies am Ende Rosis Aussage sein, will er auf Abstumpfung und Gleichgültigkeit hinweisen? Sollte dies so sein, hätte er meinetwegen gern zu klareren Worten und Bildern greifen können, so geraten diese Alltagsszenen auf Dauer ein wenig eintönig und wenig aussagestark. Sollen sie ja wahrscheinlich auch sein, um das gleichmütige Einerlei im Leben der Inselbewohner zu illustrieren. Dies hätte Rosi aber auch in wesentlich kürzerer Zeit herausstellen können, so wiederholt sich vieles immer und immer, und ich für meinen Teil gebe zu, dass ich außerstande war, einen tieferen emotionalen Kontakt zu diesen Schilderungen herzustellen. Auf die Dauer empfand ich es als anstrengend, immer wieder den Schalter umlegen zu müssen – und ich wollte es eigentlich auch nicht. Das Gefälle zwischen den wirklich eindrucksvollen Flüchtlingsszenen und den deutlich weniger eindrucksvollen Alltagsszenen der Inselbewohner ist immens und nimmt dem Film viel von seiner möglichen Kraft und Wirkung. Wie gesagt, Rosis Gründe sind mir letztlich verborgen geblieben, ich finde seine Herangehensweise nur bedauerlich, denn er hätte dem Thema sehr viel mehr abgewinnen können, auch ohne kommerzielle Kompromisse zu machen. Dass das geht, hat er selbst zwischendurch gezeigt. (10.8.)