Spotlight von Tom McCarthy. USA, 2015. Mark Ruffalo, Michael Keaton, Rachel McAdams, Brian d’Arcy James, Liev Schreiber, John Slattery, Stanley Tucci, Len Cariou, James Sheridan

   Gar nicht so leicht, nach einem langen Arbeitstag um halb zehn Uhr abends in einem chronisch überheizten Kinosaal für weitere gut zwei Stunden wach und aufmerksam zu bleiben, vor allem, da es sich um einen Film handelt, der sein Publikum eben nicht alle zehn Minuten durch lautes Getöse wachrüttelt. Aber irgendwas hat „Spotlight“ doch richtig gemacht, denn meine Aufmerksamkeit blieb durchgehend voll erhalten, und das sonst obligatorische Geflüster, Geknister, Geraschel und Gläsergeklirre der Frascatifraktion verstummte alsbald, man konzentrierte sich tatsächlich auf den Inhalt, und der ist es natürlich auch wert.

   „Spotlight“ macht eigentlich alles richtig, er schließt in vieler Hinsicht an „All the President’s Men“ an, den Klassiker über investigativen Journalismus in den USA. Einer der leitenden Redakteure beim Boston Globe heißt Ben Bradlee jr., auch hier gibt’s eine anonyme Quelle in der Tradition von Deep Throat, nur werden hier die Informationen via Telefon transferiert und nicht in einer dunklen nächtlichen Tiefgarage wie einst in den schönen 70ern.

   Gegenstand und Umfang der Investigation sind nicht weniger dramatisch und skandalös als Watergate, es geht um den massenhaften Missbrauch von Kindern, zumeist Jungen, durch katholische Priester über viele Jahrzehnte und um die Vertuschung durch die höheren Autoritäten, sprich den Bischof. Konkreter Aufhänger sind die Stadt Boston, ein pädophiler Priester namens Geoghan und der Verdacht, dass Erzbischof Law Kenntnis hatte von seinen Untaten und diese, wie auch die vieler anderer Priester, über lange Zeit konsequent vertuschte. Erste Infos und Daten gingen dem Boston Globe bereits Mitte der Neunziger zu, doch interessanterweise wurde damals nicht daraus gemacht außer einer kurzen Notiz, es wurde nicht weiter recherchiert, es wurde auch nicht weiter berichtet, und die verantwortlichen Herrschaften mussten sich knapp zehn Jahre später schon fragen, wie das geschehen konnte. In der Zwischenzeit aber hatte sich beim Boston Globe das Spotlight gebildet, eine kleine Gruppe von Journalisten, die sich ziemlich autark mit ausgewählten Fällen beschäftigt und diese dann nach langer, sorgfältiger Recherche in aufsehenerregenden Artikeln präsentiert. Es muss allerdings erst ein neuer Chefredakteur ans Ruder kommen, der dann Anfang 2001 dazu drängt, den Fall Law ins Visier zu nehmen, wobei er ausdrücklich betont, dass er weniger am einzelnen Fall interessiert ist als vielmehr am System im Ganzen. Einige der Spotlight-Kollegen haben zunächst Schwierigkeiten damit, befürchten, dass Schuldige ungeschoren bleiben, doch sie werden überzeugt, dass die Missstände, die ja weiterhin Bestand haben,  nur dann endgültig abgestellt werden können, wenn man dem System auf den Grund geht statt einzelne Bauernopfer hinzuhängen. Und so beginnt im Jahre 2001 eine zunehmend ausufernde Recherche, die sich vor allem damit befasst, Quellen zu öffnen und Zeugen zu Sprechen zu bewegen. Einige der Journalisten haben Kontakte zu höheren Kreisen der Bostoner Gesellschaft, die sie auf die eine oder andere Weise nutzen, denn genau diese Kreise sind betroffen, andere machen die Laufarbeit, treffen einen engagierten aber sperrigen Anwalt, treffen Opfer, die schon längst ausgesagt hatten, damals aber nicht recht gehört wurden, treffen einen anderen Anwalt, der seinerseits kein so großes Interesse an totaler Aufklärung hat und ringen lang und zäh um die Zugänglichmachung bis dahin versiegelter Dokumente, die von Rechts wegen öffentlich gemacht werden müssten. Zwischendurch kommt ihnen 9/11 voll in die Quere, der Fokus liegt kurze Zeit anderswo, die Story droht sogar in den Hintergrund zu treten und doch zu versickern, doch einige bleiben am Ball, und als die oben erwähnten Dokumente auftauchen und einsehbar werden, nimmt die Sache wieder Fahrt auf, bis 2002 erste Texte publiziert werden und natürlich wie eine Bombe einschlagen.

   Der Abspann informiert uns dann (leider so schnell, dass man kaum mitlesen kann) darüber, in welchen US-Städten und in welchen Ländern auf der ganzen Welt Missbrauchsfälle in gleicher Weise bekannt wurden, nur falls jemand noch angenommen hatte, dies sei ein spezifisches Boston-Problem. Aber natürlich bietet die Stadt Boston schon ein ganz spezielles Setting, traditionell in der Hand irischer Immigranten, traditionell also stark katholisch geprägt, traditionell auch geprägt durch ein verfilztes Machtgeflecht von Politik und Kirche. Die Kirche ist hier immer noch eine fast archaisch anmutende Größe, repräsentiert von Klerikern, die herrschen wie einst im Mittelalter, in vollem Bewusstsein ihrer gottgegebenen Position und ihres gesellschaftlichen Status‘. Wer ihnen ans Leder will, der begibt sich ins Zentrum der Macht, der legt sich nicht nur mit der Kirche an, der rüttelt an den Grundpfeilern der Bostoner Gesellschaft und riskiert eine Menge. Der rüttelt auch an den Grundpfeilern der eigenen Erziehung, der eigenen Ethik, und zumindest einige der beteiligten Journalisten erleben eine ziemliche Erschütterung in dieser Hinsicht, denn die meisten von ihnen sind katholisch, und für einige gehörte regelmäßige Kirchgang zur normalen Routine.

   Investigativer Journalismus beschäftigt sich nie nur mit der Tat an sich, also in diesem Fall mit dem Priester Geoghan, er muss darüber hinaus gehen, muss tiefer gehen und erforschen, wer davon wusste und wer die Tat vertuschte, denn erst dann wird es wirklich interessant und politisch relevant. Der neue Chefredakteur gibt klar die Richtung vor, ein besonnener, aber sehr entschlossener Mann, der auch seine Erfahrungen mit den Bostoner Machtstrukturen macht, der auch vorgeführt und hingehalten wird, so wie alle vor ihm. Das Faszinierende an diesem Film ist eben, wie sich das Team in die Story verbeißt, hineinwühlt, wie es Schicht für Schicht vordringt zum Kern der Sache, und wie es auf diesem Wege die Stimmen der vielen Opfer wieder zur Geltung bringt. Diesem besonders wichtigen Aspekt wird am Ende Rechnung getragen, als nach Veröffentlichung der ersten Stories die Telefone in der Redaktion nicht mehr stillstehen, als sich buchstäblich Hunderte melden, als eigentlich erst richtig klar wird, welche Dimension die monströse Missbrauchsaffäre hatte. Denn bei alledem, bei allem Einsatz für Wahrheit und die Hintergründe und so weiter, gibt es hier in erster Linie tausende misshandelter, traumatisierter, noch immer schwer verstörter Jungen, die nicht nur körperlich missbraucht wurden, die auch psychisch total aus der Bahn geworfen wurden, weil all das Grausame ihnen von einem Priester angetan wurde, einem Vorbild, einem Vaterersatz, einer Person völligen Vertrauens. Gerade in diesen Momenten ist der Film besonders eindrucksvoll, bezieht unzweideutig Position und lässt diejenigen zu Wort kommen, die in allererster Linie gelitten haben.

   Regisseur Tom McCarthy hat das ganz stark inszeniert, genau wie einst Mr. Pakula total unspektakulär, überhaupt nicht auf Effekte, sondern nur auf den Inhalt bezogen. Die Empörung und Wut im Publikum werden sich ganz von selbst einstellen, das ist mal sicher, je mehr Fakten ans Licht kommen, je deutlicher die jahrzehntelange Kette von Mitwissertum und Vertuschung wird. „Spotlight“ ist ein sehr ruhiger, aber enorm dichter, intensiver Film, der sich auch inhaltlich keinerlei Schnörkel erlaubt, der die Journalisten als Privatmenschen fast völlig ausblendet, der sie fast nur bei ihrer Arbeit zeigt und auf diese Weise dennoch einiges über sie zutage fördert, über ihre Motivation, ihre Haltung, ihren Ehrgeiz, wie sie sich dem Fall und den Opfern nähern, wie sie ihre eigene Identität als Katholiken revidieren müssen, wie sie die Ermittlungen gegen alle Widerstände vorantreiben. Es kommt hier nicht mal zu Drohungen, zu Gewaltanwendung, die Kirche schickt keine Killer vorbei, es liegen keine Patronenhülsen in den Briefkästen der Journalisten, es gibt keine nächtlichen Drohanrufe – erstens tut Kirche sowas natürlich nicht, und zweitens fühlt sich Kirche so sicher und unantastbar, das man vermutlich nie auf die Idee gekommen ist, dass all die Schweinereien eines Tages doch mal öffentlich gemacht werden könnten.

 

   Entsprechend der Story ist dies ein Ensemblefilm, es gibt keine herausgehobenen Stars, es gibt dafür aber eine Gruppe erstklassiger Akteure, die brillant und ganz uneitel zusammen spielen und genau wie ihre Figuren sich ganz in den Dienst der Sache stellen. Dezente werden eigene Akzente gesetzt, werden im Detail keine Charakteristika erarbeitet, doch tun sie nichts, was den Blick auf die Zusammenhänge im Ganzen verstellt, und das hat mir sehr gefallen. Wie mir „Spotlight“ überhaupt sehr gefallen hat, sicherlich einer der interessantesten, spannendsten und besten US-Filme der letzten Jahre, hochkarätiges Politkino im besten Sinne und ein sehr wohltuender Beweis dafür, dass auch in unserer lauten Zeit ein Film nicht unbedingt auf die Pauke hauen muss, um große Wirkung zu erzielen. (26.2.)