Suite Française von Saul Dibb. England/Frankreich/Belgien, 2015. Michelle Williams, Mathias Schoenaerts, Kristin Scott Thomas, Sam Riley, Ruth Wilson, Tom Schilling, Margot Robbie, Eileen Atkins, Lambert Wilson, Alexandra Maria Lara, Heino Ferch

   Mindestens so spannend wie der Film selbst sind die Person der Autorin und die Umstände, unter denen der unvollendete Roman viele Jahrzehnte nach seiner Entstehung dann doch noch publiziert wurde. Fünfhundert Seiten sind geblieben, nur zwei von insgesamt fünf geplanten Teilen, woran man schon erahnen kann, welche Dimensionen das gesamte Werk hätte annehmen sollen. Irène Némirovsky wurde in Auschwitz ermordet, eine Jüdin aus Kiew, die später zusammen mit ihrem Mann und ihren Töchtern zum Katholizismus konvertierte und dennoch im besetzten Frankreich verhaftet und deportiert wurde. Eine Schriftstellerin, deren distanziertes, von vielen als negatives, fast antisemitisches Verhältnis zum Judentum sie vielfach in die rechte Ecke gedrängt hat und auf jeden Fall dafür sorgte, dass sie stets eine kontroverse Person geblieben ist.

   Auch die „Suite Française“ war zumindest im ersten, in Paris spielenden Teil als kritisches Gesellschaftsbild angelegt und im weiteren als breites Panorama aus Krieg, Flucht, Widerstand. Der zweite Teil spielt in einem kleinen Dorf in Zentralfrankreich, das von der deutschen Armee besetzt wird. Die höheren Offiziere werden bei den Franzosen einquartiert. Die Geschichte wird erzählt von Lucile, deren Ehemann Soldat ist und die zusammen mit der Schwiegermutter in einem großzügigen Landhaus lebt, in das ebenfalls ein Offizier, Bruno, einquartiert wird. Zwischen ihr und dem Deutschen entwickelt sich eine Zuneigung, die von der Schwiegermutter entschieden abgelehnt wird und die letztlich unterbunden wird, als Lucile einem Nachbarn Zuflucht gewährt, der einen deutschen Offizier im Kampf getötet hat. Bruno stellt ihr einen Passierschein aus und hilft ihr sogar, als es bei einem Posten zur Schießerei kommt. Sie kann sich nach Paris durchschlagen und der Résistance beitreten. Später erfährt sie, dass Bruno im Krieg gefallen ist.

   Von allem anderen abgesehen glaube ich nicht, dass dieser Film dem Roman gerecht wird, vielleicht auch nicht gerecht werden will, da er sich von vornherein nur auf einen kleineren Teil des Romanfragments beschränkt. Némirovskys Absichten bleiben weitgehend außen vor, überhaupt kommen spezifische Themen und Ansichten der Autorin im Film kaum zum Tragen, dies hätte sicherlich auch den Rahmen eines konventionellen Liebes- und Kriegsdramas gesprengt. Und genau um ein solches handelt es sich bei „Suite Française“. Aber – um ein gutes! Bei den Szenen vom Flüchtlingszug, der von deutschen Bombern angegriffen wird, denkt man noch an Cléments „Verbotene Spiele“, und auch später kommen bei der Darstellung einiger französischer Dorfbewohner durchaus Erinnerungen an die oft ironisch überspitzten Charaktere des Klassikers hoch. Diesmal allerdings ist der Ton grundsätzlich viel schärfer, sodass Némirovsky wenigstens hier und da ein wenig spürbar ist. Die Gräueltaten der deutschen Armee (obschon in einigen Details angedeutet und keineswegs beschönigt) sind die ein Sache – die Haltung der französischen Bevölkerung die andere, und hier wird durchaus ein breiteres Spektrum aufgefächert. Die Opportunisten, vor allem in den Reihen der oberen Zehntausend, die weiterhin versuchen, ihre Privilegien zu erhalten und lieber die ohnehin schon gebeutelten Pächter drankriegen wollen, die Kollaborateure, die Heuchler, die vor allem auf Französinnen herabsehen, die mit Deutschen anbändeln („horizontale Kollaboration“ nennt die Wissenschaft das passenderweise…), nur wenige Widerständler, Egoismus und Gier allenthalben, auch für Lucile bricht die Welt zusammen, als sie erfährt, dass ihr Mann eine Affäre und sogar ein Kind mit einer anderen hat. Sie lebt in eisiger Distanz zu der gleichfalls eisigen Schwiegermutter ein ziemlich freudloses, verhuschtes Leben, weswegen der Kontakt zu dem kultivierten, höflichen Bruno fast zwangsläufig etwas in ihr weckt und auslöst. Die Liebe zur Musik tut ihr Übriges, und schon denk‘ ich „Oh nein, jetzt bloß keine Weltkriegsschnulze“, aber – es wird auch keine, Überraschung. Zwar kitscht der Soundtrack deutlich mehr als mir lieb ist, doch alles in allem bleibt die Tonart sehr angemessen dezent, zurückhaltend, und die Story nimmt bald einen realitätsbezogenen Kurs, bevor unsere beiden Liebenden so richtig zueinander finden können. Ihre Liebesgeschichte bleibt die ganze Zeit über eingebettet in das große Ganze, der Blick auf politische und gesellschaftliche Verhältnisse geht nie verloren, und dann ist da auch noch die Erzählerstimme, deren etwas rauer, unkonventioneller Ton auf den ersten Blick nicht recht zu Luciles Erscheinung passen will.

 

   In vielem also ein eindringlicher, emotional sehr starker Film, spannend und intensiv, so wie man sich ein gutes Drama halt wünscht. Vielleicht ist es ganz gut, dass ich unbefangen ins Kino gegangen bin, sprich vorher wenig bis gar nichts über Roman und Autorin wusste, sonst wäre ich womöglich unzufriedener wieder rausgekommen. So aber ist der Eindruck da, und ich will dem Film im Nachhinein nichts anlasten. Womit ich als einziges wirklich meine Probleme hatte, ist die Besetzung, die ziemlich bunt gewürfelt ist – zu bunt für meinen Geschmack. Vor allem Michelle Williams als Lucile will mir nicht recht passen, obwohl sie durchaus überzeugend spielt, doch ist sie für mich einfach zu sehr Amerikanerin, und ich hätte sehr viel lieber eine französische Schauspielerin in der Rolle gesehen, was nix mit Nationalismus oder sonstigem Blödsinn zu tun hat, sondern nur mit dem Gefühl von Echtheit. Ihr Zusammenspiel mit dem wie gewohnt tollen Schoenaerts entschädigt weitgehend dafür. Sicherlich ist dies eine Konzession an die Geldgeber und Produktionsfirmen und Märkte, doch bin ich halt so naiv oder idealistisch, dass mir immer wieder wünsche, es wäre nicht nötig. Aber man muss den Film halt so nehmen wie er ist, auch in Bezug auf die Entscheidung, die Romanvorlage um mindestens die Hälfte zu kappen. In diesem Rahmen ist er wirklich gut geworden, dass auch etwas ganz anderes hätte entstehen können, steht außer Frage. (8.2.)