Vor der Morgenröte von Maria Schrader. BRD/Österreich/Frankreich, 2016. Josef Hader, Aenne Schwarz, Barbara Sukowa, Matthias Brandt, Charly Hübner
Von jener Morgenröte ist die Rede in Stefan Zweigs Abschiedsbrief, den er im Februar 1942 hinterließ, nachdem er und seine zweite Ehefrau Lotti in Petrópolis/Brasilien mit Gift aus dem Leben geschieden waren. Jene Morgenröte, auf die er noch immer hoffte, ungeachtet des Krieges und des Terrors, die soeben seine Heimat Europa vernichteten, auf die zu warten ihm allerdings die Geduld und vor allem die Kraft fehlten. Der Sechzigjährige hat einige Jahre des Exils hinter sich, ist über London in die USA gekommen, von dort nach Südamerika, wo er lange Zeit zusammen mit seiner Sekretärin und bald Frau Charlotte rastlos umherreist, immer bemüht, mithilfe einflussreicher Gönner die Flucht seiner Freunde und Kollegen aus Europa zu erwirken. Er muss einiges über sich ergehen lassen, betont aber stets, dass es ihm an nichts fehle und seine Entbehrungen im Vergleich zu denen der Menschen in Europa nichtig waren. Immer wieder vertritt er nachdrücklich seinen Pazifismus und seine Überzeugung, dass es unlauter sei, aus sicherer Entfernung wohlfeile Polemiken gegen Hitler und die Nazis zu formulieren, weil darin kein Risiko sei und diese Form des „Widerstands“ höchst selbstsüchtig. Vor allem bei den internationalen jüdischen Journalisten stößt der allgemein bewunderte und geschätzte Autor auf Unverständnis und Ablehnung, sie erwarten von Zweig deutliche Äußerungen, die nach ihrer Ansicht der antifaschistischen Sache insgesamt helfen würden. Zweig aber bleibt konsequent, spult die notwendigen und unvermeidlichen öffentlichen Auftritte ab, versenkt sich gleichzeitig immer wieder in Trauer und Melancholie über den Untergang Europas, das ihn nicht loslässt, und das er als eine Art Vision von Freiheit und Offenheit immer in sich trägt. Er trifft in New York seine Exfrau Friderike, die seit kurzem ebenfalls aus Europa emigriert war und mit ihren beiden Kindern aus erster Ehe dort lebt. Zweigs Verhältnis zu ihnen ist sichtlich unsicher und distanziert, doch zu Friderike hat er offenbar noch eine enge Bindung, die wiederum deutlich macht, dass die Ehe mit Lotti nicht gerade eine Beziehung auf Augenhöhe ist, und dass sie dessen absolut bewusst ist. Vor Zweigs sechzigstem Geburtstag finden sie dann in Petrópolis endlich ein scheinbar festes, dauerhaftes Zuhause in einem Land, dessen Offenheit und Schönheit stets großen Eindruck auf den Schriftsteller gemacht hatten. In der Stadt siedelt sich eine Art deutscher Exilkolonie an, und auch Zweig scheint endlich irgendwo angekommen zu sein. Sein Selbstmord trifft alle dann sehr überraschend.
Ich hab’s nicht unbedingt mit Biographiefilmen, aber hier mache ich gern mal eine Ausnahme. Maria Schrader ist ein Meisterstück geglückt, eine von Anfang bis Ende faszinierend intensive, eindrucksvoll sinnliche Charakterstudie, die eben gar nichts mit den üblichen trockenen Psychokisten zu tun hat, sondern abgesehen vom Inhalt auch noch äußerst attraktiv und spannend ist. Schrader und ihr Autor versuchen nicht, Zweigs Exilzeit lückenlos zu erzählen und für jedes Ereignis die richtige Erläuterung zu liefern. Sie haben sechs Episoden ausgewählt, von den 30ern bis hin zu Zweigs Tod, die ihn und seine Lotti in Brasilien und New York zeigen, in verschiedenen Situationen und Zusammenhängen, ihn bei einem großen Empfang mit dem brasilianischen Premier oder später auf einem Treffen des PEN-Clubs und einer vorangehenden strengen Sitzung mit kritischen Journalisten, die beiden irgendwo im Busch, wo die unter höchst skurrilen Umständen in einem Dorf geehrt und mit folkloristischer Blasmusik beglückt werden, wobei sie innerlich schon wieder beim nächsten dringenden Termin sind, später dann in New York bei Friderike und deren Familie, alte Sehnsüchte und Spannungen inbegriffen, und schließlich dann beide in Petrópolis, wo sie eine neue Heimat finden könnten und man irgendwie nicht so richtig mitbekommt und versteht, dass es für Zweig schon zu spät ist. Schrader verknüpft Motive, lässt aber auch Brüche wirken, erzählt elliptisch, bleibt auch immer etwas auf Distanz, dringt niemals zu sehr in die Personen ein, und so kommt es, dass wir zwar einiges von Zweig hören, aber nach einhundert Minuten durchaus nicht soweit sind, ihn wirklich besser kennengelernt zu haben. Er bleibt introvertiert, ein wenig fremd, oft erscheint er abwesend, versunken in Gedanken und Erinnerungen. Wenn die groteske Dschungelcombo einen schrägen Wiener Walzer intoniert, rollt eine einsame Träne über sein Gesicht, und wir erahnen, was in ihm vorgehen mag, wie weh ihm die vermutlich endgültige Trennung von Europa tut. Denn er ist Europäer aus Überzeugung, tritt für die geistige, die intellektuelle Tradition ein, fordert streng die Trennung von Kunst und Politik. Und tut sich enorm schwer damit, sich vor den Karren irgendeiner Bewegung spannen zu lassen, selbst wenn er deren Überzeugungen und zielen grundsätzlich zustimmen würde. Er lässt sich kein Wort über Hitler entlocken, setzt sich gleichzeitig unermüdlich für andere ein, die nicht wie er rechtzeitig fliehen konnten.
Josef Hader ist eine famose Besetzung, er spielt den Zweig zugleich total zurückhaltend, und dennoch mit einer derart intensiven Präsenz, dass ich ihm beeindruckt zugesehen habe. Aenne Schwarz ist ebenbürtig als Lotti, die völlig auf die Rolle der treuen Begleiterin reduziert zu sein scheint, die ewig in seinem Schatten steht, und die ihm schließlich sogar in den Tod folgt, was ein noch unfassbareres Rätsel ist als Zweigs Suizid. Schrader gelingen eindrucksvolle Hitzebilder aus Brasilien (oder was auch immer als Brasilien durchgehen muss), ein paar äußerst anregende, komplexe Gruppenporträts, die sehr viel über Exilgesellschaften verraten, Szenen von zartem, verschmitztem Humor, und eben jene Momente, in denen es auch mal ganz explizit darum geht, was Kunst soll oder nicht soll, ob sie Stellung beziehen, kämpfen, sich engagieren soll, und wenn ja, auf welche Art das zu geschehen hat. Auf dem PEN-Kongress verliest Emil Ludwig eine zugleich erschütternde und zutiefst eindrucksvolle Liste all jener Künstler, die von den Nazis ins Exil getrieben wurden, und es wird einmal mehr deutlich, was dieser krieg abgesehen von allem anderen auch auf kulturellem Gebiet angerichtet, wieviel er zerstört, und zwar für immer zerstört hat. Zweig ist einer jener, die es nicht schafften, die am Exil letztlich zugrunde gingen, obwohl gerade er sich ja unentwegt bewegt und bemüht hat, auch darum, sein neues Schicksal anzunehmen, zu akzeptieren. Das scheinbar heitere, unkomplizierte Miteinander der zahlreichen Ethnien in Brasilien wirkt wie eine irreale Vision auf ihn, eine Art Bild vom Paradies, das er sich für Europa erträumt. Ich sitze im Kino und vergleiche diese Vision mit der heutigen Realität, sehe einige Teile davon durchaus realisiert, andere noch immer nicht, und vor allem der pazifistische Teil wird wohl für immer ein Traum bleiben. Dass selbst eine Katastrophe wie der Zweite Weltkrieg nicht ausgereicht hat, um die Menschen in Europa nachhaltig zum Pazifismus zu erziehen, ist nicht zu fassen, wird nie zu begreifen sein. Dies ist nur einer von vielen Gedanken, die dieser Film zwischendurch anregt, und er tut dies ganz nebenbei, ganz ohne große Geste, total souverän. Maria Schraders erste Regiearbeit „Liebesleben“ vor fast zehn Jahren nun schon hat mir bereits sehr gefallen, „Vor der Morgenröte“ ist noch um eine Klasse besser, ist ein wirklich herausragender, brillant gestalteter, genial gespielter Film. (2.6.)