Wild von Nicolette Krebitz. BRD, 2015. Lilith Stangenberg, Georg Friedrich, Silke Bodenbender, Saskia Rosendahl

   Ania führt in einem farblosen Hallenser Plattenbaughetto ein ziemlich farbloses Leben. Der Bürojob ist genauso farblos wie ihr Outfit und die tägliche Routine zwischen Job und Zuhause. Keine Freunde, kein Partner, die Schwester skypt nur lustlos, und der Großpapa als anderer engster Angehöriger liegt im Krankenhaus mehr oder weniger im Sterben. Die Kollegen kichern über ihre uncoole, graumäusige Erscheinung und der Chef, ein echter österreichischer Drecksack, schmeißt ab und zu was ans Fenster, wenn sie ihm einen Kaffee machen soll. Eines Tages ändert sich das alles – im Park auf dem Weg zur S-Bahn sieht sie für einen Augenblick nur einen Wolf, und fortan ist sie wie besessen von dem Gedanken, diesen Wolf einzufangen, und ruht nicht eher, bis sie es tatsächlich geschafft hat. Sie beginnt sich zu verändern, zieht sich aus ihrem bisherigen Leben Schritt für Schritt zurück, nähert sich gleichzeitig dem wilden Tier nebenan im Zimmer, und verliert im gleichen Maße den Kontakt zum Alltag und den Mitmenschen. Sie endet schließlich selbst als halbwegs wildes Wesen draußen im Braunkohletagebau, zottelig, obdachlos, aber frei und zufrieden in die Sonne schauend.

   Noch ein Film aus heimischen Gefilden, der sich ganz offensichtlich absetzt vom künstlerischen Durchschnitt. Eine eigentümlich hermetische Stimmung umgibt die Geschichte und ihre Figuren, zugleich beunruhigend und auch faszinierend. Nicolette Krebitz hat sich richtig was getraut, hat eine Art erotischer feministischer Fantasie erschaffen, rätselhaft, suggestiv, provokativ, mit Anlehnung an alle möglichen Filme zwischen Borowski und Buñuel, und sie hat das Kunststück fertiggebracht, bei alledem eine eigene Form, einen eigenen Ausdruck zu finden. Das hinreichen bekannte Ostmilieu, normalerweise Hintergrund trister Sozialdramen, wird diesmal zunächst ganz ähnlich benutzt und dient als wirkungsvolle Illustration der Ödnis in Anias Alltag, doch wird diese Oberfläche in dem Maße brüchiger, da Ania sie selbst durchbricht, auflöst und sich in eine andere, eine Art Parallelexistenz bewegt, in Richtung auf mehr Körperlichkeit, mehr Sinnlichkeit. Der Wolf wird Gegenstand erotischer Träume, wird zur Projektionsfläche für Ängste und Sehnsüchte, wird eine Art Komplize auf dem Weg in die Wildnis. Diese Wildnis scheint der einzig denkbare Zufluchtsort zu sein angesichts einer Realität, die sich durch Eintönigkeit und Langeweile auszeichnet. Und sie natürlich gleichermaßen geprägt, denn genauso eintönig und langweilig wie ihr Leben kommt auch Ania selbst rüber, bis eben zu jener Begegnung mit dem Wolf. Lilith Stangenberg spielt das toll, ist extrem überzeugend, anfangs als introvertierte, unscheinbare junge Frau, deren halbes Gesicht stets von Haaren bedeckt ist, und in deren Augen wenig Leben oder Selbstbewusstsein zu lesen ist, später dann als ein unberechenbares, impulsives Wesen mit blitzendem Blick unter zotteliger Mähne. Sie nimmt sich plötzlich, was sie haben will, nimmt sich auch dem Chef auf dessen eigenem Schreibtisch, bricht endlich mit der egoistischen Schwester, bricht überhaupt mit allem, und landet nach einer haarsträubenden Flucht vom Hochhausdach in einer Art Wildnis, jedenfalls dem, was man hierzulande noch darunter verstehen könnte.

 

   Krebitz gelingt eine kunstvolle und ausdrucksstarke Verquickung von intimen Bildern und betörenden Tönen, sie fordert unsere Geschmacksgrenzen gezielt und mit fast sichtbarer Lust am Tabubruch, sie stellt ganz einfach eine Geschichte vor, die genau wie ihre Protagonistin so anders und außergewöhnlich ist, dass sie in unserer Kino- bzw. TV-Landschaft zwangsläufig auffallen muss. Das ist aber noch nicht mal das wichtigste dabei – das wichtigste ist, das dieser Film ebenso anregend wie grimmig-komisch und erotisch ist, alles in allem eine sehr spezielle Sache. Selten hat ein Titel so gut zum Film gepasst wie dieser. (25.4.)