Berlin Syndrome von Cate Shortland. Australien, 2017. Theresa Palmer, Max Riemelt, Matthias Habich, Emma Bading, Lucie Aron
Und Berlinale, die vierte.
Hier fand ich erstmal schön zu sehen, welch besonderes Publikum dies ist. Ein Film wie dieser würde die normalen Popcornkids oder auch die Frascatifraktion vermutlich nicht mal dazu animieren, ihr unentwegtes Geraschel, Getuschel und Gemampfe einzustellen. Hier in Berlin aber gibt’s richtig Reaktionen, kollektives Geraune, tiefes Durchatmen, wenn‘s mal wieder spannend oder heftig wird, erleichtertes oder aufgeregtes Stöhnen. Für mich war das ziemlich neu, alles andere als selbstverständlich und ein ganz neues Kinoerlebnis. Hat mir sehr gefallen.
Cate Shortlands neuer Film hat mir natürlich auch sehr gefallen. Dies ist tatsächlich erst ihr dritter langer – in sage und schreibe zwölf Jahren! In diesem Zeitraum dürfen etliche total talentlose Motherfucker mindestens doppelt so viele Werke ausbrüten. Die Welt ist eben doch ungerecht…
Clare kommt aus Brisbane als Rucksacktouristin nach Europa, landet erstmal in Berlin, kommt billig in Kreuzberg unter, und lernt bald Andi kennen, einen etwas sonderbaren, aber sehr charismatischen Englischlehrer und lässt sich gern auf eine flotte Affäre in seiner etwas unheimlichen Behausung in einem leerstehenden Hinterhaus ein. Solche Häuser gibt’s in Berlin tausendfach, versichert Andi, und Clare hat erstmal keinen Grund, ihm zu misstrauen. Das ändert sich auch noch nicht, als sie am anderen Morgen feststellt, dass er die Wohnungstür verschlossen und offenbar vergessen hat, ihr einen Schlüssel zu hinterlassen. Das ändert sich erst, als ihr klar wird, dass er gar nicht die Absicht hatte, ihr einen Schlüssel zu hinterlassen. Und erst recht ändert sich das, als Andi zunehmend erschreckende Verhaltensweisen an den Tag liegt und Claire einsehen muss, dass sie einem waschechten Psycho- und Soziopathen in die Hände gefallen ist. Verschlimmert wird ihre Lage noch durch die Entdeckung, dass sie offenbar nicht sein erstes Opfer war…
Ein Psychodrama mit ein paar heftigen Gewaltausbrüchen, die frühzeitig dafür sorgen, dass man Clares Situation sehr ernst nimmt, denn anfangs hätte Andi durchaus als schräger verliebter Nerd durchgehen können, der seine neueste Eroberung ganz für sich haben will und dabei übers Ziel hinausschießt. Clare jedenfalls scheint das erstmals so zu sehen und möchte ihn freundlich darauf hinweisen, dass sie sich nicht so gern einsperren lässt, doch schon nach kurzer Zeit kapieren auch wir, dass Andi es durchaus ernst meint und dass er nicht vorhat, Clare jemals wieder frei zu lassen. Clare versucht alles, um dieser schlimmen Situation zu entkommen, sie wehrt sich, sie versucht auszubrechen, dann wieder versucht sie ihn zu verführen, ihn abzulenken, ihn emotional zu beeinflussen, alles ohne Erfolg. Andi missbraucht sie, fotografiert sie, drapiert sie als Objekt, er geilt sich an seiner Macht auf, kurz, er verhält sich wie all die vielen perversen Männer, die gezielt Gewalt gegen Frauen ausüben und von denen es auf der Welt um hundert Prozent zu viele gibt. Cate Shortland und ihr Autor Shaun Grant unternehmen keinen Versuch, irgendein exemplarisches Erklärungsmuster zu etablieren. Auch die Frage nach Andi Motiven bleibt offen. Wir sehen ihn eigentlich nur in drei unterschiedlichen Milieus – zuhause, in der Schule und bei seinem Vater, der allein für sich in dezenter Verwahrlosung lebt und zu dem er ein mild distanziertes Verhältnis hat, nichts jedenfalls, was seine böse Deformierung erklären helfen würde. Wir erleben ihn als kontaktgestört, introvertiert, nur an der Oberfläche freundlich, und scheinbar ist er nicht gut auf die DDR zu sprechen, doch bieten Drehbuch und Regie hier glücklicherweise keine schematischen Zusammenhänge an. Was Andi und seine Verbrechen im Grunde nur noch bedrohlicher und beängstigender macht, vor allem für Clare, die fieberhaft nach einem Zugang sucht, irgendeinem Punkt, an dem sie ihn kriegen, ihn erweichen kann. Der Kampf zwischen ihnen wird abwechselnd auf psychischer und auch sehr handfest physischer Ebene ausgetragen, und Shortland fügt ein paar hässliche und äußerst wirkungsvolle Gewaltmomente ein, die häufig so getimt sind, dass sie jegliche schwache Hoffnung brutal im Keim ersticken. Zum Ende hin wird’s dann sehr dramatisch und höllisch spannend bis hin zu Clares waghalsiger Rettung durch eine Schülerin, die sie auf sich aufmerksam machen konnte. Der Showdown in dem alten Mietshaus hat es echt in sich und muss sich hinter keinem genrespezifischen Werk verstecken, ansonsten aber zielt Shortland schon eher auf die Psychologie. Maßgeblich beteiligt an der starken Wirkung des Films sind natürlich die beiden Hauptdarsteller, die toll zusammen spielen, wobei Riemelt klar die interessantere Rolle hat und diese wirklich famos gestaltet. Gerade die abrupten, furchteinflößenden Wechsel vom scheinbar harmlosen, unscheinbaren, ganz normalen Typen hin zum gewalttätigen, unberechenbaren Psychopathen sind sehr effektvoll und allemal beeindruckender als all die vielen Bösewichtern, denen das Böse quasi aus allen Knopflöchern quillt. Und das der Titel Bezug nimmt auf das berühmt-berüchtigte Stockholm-Syndrom ist auch klar, denn auch im „Berlin Syndrome“ wird über die komplexe, häufig changierende Beziehung zwischen Täter und Opfer, Geisel und Geiselnehmer reflektiert und zusätzlich auch, wie Cate Shortland nachher auf der Bühne erläutert, über die bange und weitreichende Frage, ob es so etwas wie ein gängiges Opferschema gibt, dem die Täter automatisch folgen. Was macht einen Mann zum Täter, was eine Frau zum Opfer? Vor allem, das fragten sich vermutlich nicht wenige der Frauen im Publikum, hilft es den Opfern, wenn es eine Antwort darauf gibt?
Alles in allem ein sehr starker, spannender und aufwühlender Film, nicht ganz so stark sicherlich wie das Meisterwerk „Lore“, aber auch weit entfernt davon, sein schwieriges Sujet auf Kosten publikumssicherer Effekte zu verheizen. Toll gespielt und intensiv in Szene gesetzt, und ich kann nur hoffen, dass Cate Shortland zukünftig häufiger die Gelegenheit bekommt, ihre kontroversen Filme unters Publikum zu bringen und nicht nur alle Jubeljahre mal… (15.2.)