Chez nous (Das ist unser Land!) von Lucas Belvaux. Frankreich/Belgien, 2017. Émilie Dequenne, André Dussollier, Guillaume Gouix, Catherine Jacob, Anne Marivin, Patrick Descamps, Charlotte Talpaert
Einer der Filme über unsere jetzige Zeit, nicht mehr, nicht weniger. Einerseits ein spezifisch auf französische Verhältnisse zugespitzter Film - daher auch die empörten Reaktionen der Herren vom Front National, die sich darüber echauffierten, dass Belvauxs Film unmittelbar vor der anstehen Präsidentschaftswahl im Lande lanciert wurde -, andererseits ein Film über alle anderen Länder auch, jedenfalls was unseren westeuropäischen Dunstkreis angeht. Stichwort „Rechtspopulismus“. Regt heute keinen mehr auf, gehört zu unserer politischen Landschaft und ist genau deshalb so immens gefährlich, weil plötzlich wieder eine gangbare Alternative, auch für die vermaledeiten Protestwähler (wird warten auf unsere eigene Wahl im Herbst, bevor wir den ersten Stein werfen…). Und ist auch deswegen so gefährlich, weil er geradewegs aus unserer sogenannten Mitte kommt, von den sogenannten einfachen Leuten, wie wir alle es sind, und genau das hat Belvaux aufgegriffen, einen Film über ganz normale Menschen und Rechtspopulismus gemacht.
Belvaux hat außerdem einen geradezu mustergültigen politischen Film gemacht, finde ich jedenfalls, weil er vorbildlich Strukturelles und Individuelles verknüpft, das heißt, er nimmt sich eine persönliche Geschichte vor und veranschaulicht daran quasi die darüber gebaute Struktur.
Die persönliche Geschichte: Pauline ist eine ganz normale nordfranzösische Ehefrau und Mutter, die als ambulante Krankenschwester arbeitet. Sie wird wie beiläufig von Doktor Berthier angesprochen, ob sie nicht Teil seiner Kampagne werden will. Die Kampagne, geleitet von Agnès Dorgelle, benötigt ein lokales Gesicht, ein Gesicht, das die Menschen vor Ort kennen, dem sie vertrauen, mit dem sie sich identifizieren. Dorgelle hat es eilig, weil die Präsidentschaftswahlen vor der Tür stehen und ihre Partei im vielversprechenden Norden ihrer Ansicht nach noch nicht gut genug aufgestellt ist. Berthier beruhigt sie, er habe die richtige Kandidatin für den Bezirk gefunden und werde sie überreden, der Kampagne beizutreten. Pauline lässt sich von dem äußerst zielstrebig agierenden Berthier dazu überreden, zur nächsten örtlichen Versammlung zu kommen, und dort erfährt sie dann Näheres über die Partei. Dorgelle tritt vor ihr Publikum wie ein Showstar und polemisiert gegen Überfremdung und für die Wahrung der nationalen Identität. Pauline klatscht mit, singt auch die Marseillaise mit. Sie lässt sich von Berthier vor den Karren spannen und erscheint kurz darauf auf den lokalen Wahlplakaten. Spätestens jetzt bekommt Pauline die Konsequenzen zu spüren: Eine ihrer Freundinnen, die sich stark links engagiert, reagiert mit Wut und Unverständnis. Eine andere Freundin entpuppt sich als begeisterte Unterstützerin Dorgelles und ihrer Rechtsclique. Ihr Vater, seit jeher überzeugter Kommunist, erklärt kategorisch, er wolle nicht der Vater einer Faschistin sein. Zudem verliebt Pauline sich in Stanko, der früher der extremen, gewalttätigen Rechten angehörte, dieser Szene nun aber angeblich abgeschworen hat. Allerdings nimmt er weiterhin an brutalen Übergriffen gegen Immigranten teil, weswegen er sich erneut mit Berthier anlegt, der sich früher schon von ihm distanzierte, weil die Partei nichts mit rechtsradikalen Schlägern zu tun haben will, sondern als bürgerlich und demokratisch gelten möchte. Pauline erkennt zunächst nicht, aus welcher Ecke Stanko kommt und sie macht zunächst bereitwillig beim Wahlkampf mit, doch es kommt vermehrt zu bedrohlichen oder unangenehmen Situationen, und langsam aber sicher beginnt Pauline, über die Sache nachzudenken. Sie wird schließlich durch ein anderes Gesicht ersetzt, bleibt aber bei Stanko, mit dem sich offenbar eine Zukunft aufbauen will, nachdem er ihr versichert hat, endgültig mit dem rechten Mob abgeschlossen zu haben.
„Beklemmend, oder?“ sagte jemand nach dem Film, und dem konnte ich nur zustimmen. Die Beklemmung wirkt vor allem sehr lange nach, sie sitzt und praktisch in den Klamotten, wenn wir aus dem Kino kommen, sie liegt bleischwer über den letzten Szenen des Films, die in ihrer Ambiguität extrem irritierend sind. Belvaux verlangt viel von uns, er verlangt sogar, dass wir am Ende ein scheinbares Familienidyll akzeptieren in dem Wissen, wer da im Fußballstadion so einträchtig beieinander sitzt. Stanko ist im Grunde nichts weiter als ein Nazischläger, brutal und sadistisch, der mit seinen Schlägerfreunden Immigranten drangsaliert, bedroht, demütigt und verletzt und die brutalen Aktionen anschließend noch ins Netz stellt als aufmunterndes Beispiel zur Nachahmung. Belvaux zwingt uns, uns auf diese Szene einzulassen, auch wenn sich alles in mir dagegen sträubt, aber er hat ja recht, denn nur so kann man sich auseinandersetzen, kann verstehen, kann vor allem verstehen, wie diese rechten Gruppierungen operieren und auf welche Weise sie Fuß fassen können bei den Leuten. Nordfrankreich ist ein gefundenes Fressen, die alten, abgewrackten Industriestädte, die strukturschwachen Gegenden dazwischen, die hohe Arbeitslosigkeit, die allgemeine Perspektivlosigkeit, das Gefühl, von Paris im Stich gelassen zu werden, alles Wasser auf die Mühlen der rechten Demagogen, die eigentlich nur auf eine solche Konstellation gewartet haben. Und tatsächlich fliegen ihnen die Wähler zu, Dorgelles cleverer Populismus rennt offene Türen ein, ein Schuldiger muss gefunden werden und wird gefunden, nämlich die liberalen Politiker und vor allem die Immigranten, die Existenz und Identität der wahren Franzosen bedrohen. Dabei ist die Partei klug genug, sich nachdrücklich vom Nazipöbel à la Stanko abzugrenzen und als respektable, mit beiden Beinen auf demokratischem Boden fußende Gruppierung aufzutreten. Einige wenige Auftritte Dorgelles reichen völlig, um zu verdeutlichen, wie wirkungsvoll und brandgefährlich die Argumentation ist und wie bereitwillig viele jener, die sich als Opfer, als Vergessen fühlen, ihr folgen. Pauline ist eine von ihnen, nicht mal ein Opfer oder eine Vergessene, denn sie kommt ganz gut über die Runden, arbeitet viel, beschwert sich aber nie und ist auch noch nie auf den Gedanken gekommen, die Immigranten für ihre Situation verantwortlich zu machen. Sie habe mit Politik noch nie soviel am Hut gehabt, teilt die Berthier mit, und damit ist sie natürlich das ideale Werkzeug für ihn, denn ihre Gutmütigkeit und Naivität machen sie beeinflussbar und formbar. Hier geht Belvaux sicherlich recht formelhaft zu Werke, doch tut er dies mit Hilfe der großartig aufspielenden Emilie Dequenne so überzeugend, dass ich ihm das gern abgenommen habe. Auch sonst stellt er die einzelnen Bausteine seiner Erzählung deutlich erkennbar auf, füllt sie aber immer sehr glaubwürdig mit Leben und Lebensnähe. Und natürlich argumentiert er strikt politisch, macht aus seiner eigenen Haltung keinen Hehl, fühlt sich andererseits aber so gründlich in die Gegenseite ein, dass eben jene Beklemmung entsteht, die den Film extrem ungut ausklingen lässt, denn wie sollten wir der zutiefst verunsicherten und vielfach manipulierten Pauline und ihrem Stanko mit seine finsteren Vergangenheit, die ja noch nicht mal so sicher Vergangenheit ist, eine freundliche Zukunft wünschen – und wieso? Belvaux mutet uns wirklich eine Menge zu, sogar eine Auseinandersetzung mit unseren Vorurteilen oder Neigungen, und letztlich ist es gerade die sehr gekonnt realisierte Mischung aus Satire und Drama, die den Film so unbequem, so unangenehm macht.
Nordfrankreich hat auch hierzulande etliche regionale Parallelen, die Vergleichbarkeit der Konstellationen ist weitgehend gegeben, und niemand mit einem Grundmaß an Realitätsbezug wird behaupten, so etwas werde es in der BRD nicht geben. Natürlich sind die Bezüge zur französischen Situation und zur Front National inklusive Marie Le Pen unübersehbar, absolut gewollt und auch schön provozierend, doch Dorgelles Sprüche, ihr Auftreten, ihre ständigen Appelle an die nationalen Instinkte und Emotionen ihrer Zuhörer, finden leider in fast jedem europäischen Land ihre Entsprechung. Eine grandiose politische Lektion, eine bittere Gesellschaftsanalyse und zugleich ein Drama, das uns identifikationsfreudige Kinogänger an ihre Grenzen treibt. Ein dringend nötiger Tritt in die Fresse des rechten Gesocks und wie gesagt der ultimative Film zur Zeit. (1.9.)