Le ciel attendra (Der Himmel wird warten) von Marie-Castille Mention-Schaar. Frankreich, 2016. Noémie Merlant, Naomi Amarger, Sandrine Bonnaire, Clotilde Courau, Dounia Bouzar, Zinedine Soualem, Yvan Attal, Ariane Ascaride, Sofia Lesaffre, Mourad Frarema

   Der bisher einzige Film, den ich von Mention-Schaar gesehen habe, war „Willkommen in der Bretagne“ vor ein paar Jahren, ein ärgerlich läppisches Wohlfühlfilmchen, und was danach kam, hat mich auch nicht gerade ermutigt und mich erst recht nicht darauf vorbereitet, dass diese Regisseurin tatsächlich mal einen so hervorragenden Film wie „Der Himmel wird warten“ schreiben und inszenieren würde. Also wirklich – châpeau!

  „Le ciel“ beschäftigt sich mit dem einen großen Thema, das seit Jahren alle anderen Themen zu überlagern scheint, jedenfalls was einige Länder der sogenannten westlichen Welt betrifft, nämlich mit dem islamistischen Terror. Hier nicht anhand irgendwelcher Gräueltaten, sondern auf noch viel tiefergehende Weise, die uns vermutlich noch viel direkter trifft – die Rekrutierung unserer eigenen Kinder durch Schergen des islamistischen Terrors. Und da Frankreich bekanntlich noch in ganz anderem Ausmaß betroffen ist als beispielsweise die BRD, wird dieses Thema dort sicherlich noch eine völlig andere Relevanz und Brisanz haben. Irgendwo stand auch schon wieder was von wegen „basierend auf einer wahren Geschichte“, was absolut glaubhaft ist.

   Zwei junge Mädchen, Schülerinnen, aus normal bürgerlichem Milieu. Die eine, Mélanie, hat es noch vor sich, die andere, Sonia, hat es halbwegs hinter sich, aber noch nicht ganz. Sie wird von einem Polizeikommando im eigenen Elternhaus festgenommen, die Eltern Catherine und Samir müssen konsterniert zur Kenntnis nehmen, dass sie sich einem Dschihad-Kommando angeschlossen hat und kurz davor war, nach Syrien ins Trainingscamp auszureisen, wo sie dann selbstverständlich für die Ausführung von Terroranschlägen ausgebildet worden wäre. Catherine und Samir wenden sich an eine Art Selbsthilfegruppe, geleitet von der erfahrenen Pädagogin Dounia Bouzar, die versucht, Aufklärung zu leisten und die versucht, die Perspektive der Eltern und die der Kinder gleichermaßen ins Visier zu nehmen. Wir reden hier also nicht von Einzelfällen, sondern von einer Häufung, einer zunehmenden Zahl junger Menschen, die sich aus unterschiedlichsten Beweggründen anlocken, anwerben lassen. So wie Mélanie, eine ganz normale Schülerin, Tochter, Enkelin, Cellospielerin, insgesamt eher brav und unauffällig, die ein Parallelleben aufbaut, in dem sie online mit einem Typen chattet, der sie sehr geschickt umgarnt, ihr Komplimente macht, Verständnis für sie und ihre Problemchen signalisiert, ihr vor allem signalisiert, dass sie für ihn etwas ganz Besonderes ist. Der Kontakt bleibt nicht folgenlos: Plötzlich konfrontiert sie ihre Mitschüler mit skurrilen Verschwörungstheorien, erntet logischerweise Unverständnis, Spott, gerät immer mehr ins Abseits, und genau das treibt sie geradewegs in die Arme ihres anonymen „Freundes“, der ihr nun zu suggerieren beginnt, sie sei etwas Besseres, sei zu schade für den restlichen Durchschnitt, sei deshalb geeignet für „höhe Aufgaben“, und schön langsam beginnt er sie zu indoktrinieren, hat sie ruckzuck für den „Islam“ (also seine pervertierte Form davon) gewonnen, und bald ist sie bereit, nach Nahost zu reisen, um dort die höheren Weihen zu empfangen. Ihre Mutter Sylvie, mit der sie eigentlich immer ziemlich eng war, verliert den Kontakt und ist entschlossen, der Tochter notfalls nachzureisen, sie mit allen Mitteln zurückzuholen. Diese Geschichte bleibt offen, während es so aussieht, als könne Sonia tatsächlich zurück ins normale Familienleben finden.

   Mention-Schaar erzählt nicht ordentlich und chronologisch, bricht die Geschichte vielfach auf, springt in den Zeiten, montiert oft nur kurze Sequenzen, schafft eine Atmosphäre der Unruhe, der Desorientiertheit, der Verunsicherung, und so ist es ist allein schon auf formaler Ebene gelungen, die inhaltliche Substanz ihres Thema nachfühlbar, nachvollziehbar zu machen. Sie hält sich nicht mit Melodramatischem auf, erst recht nicht mit Wertungen, schematischen Rollen- und Schuldzuweisungen oder einem einfachen Ursache-Wirkung-Prinzip. Weder Sonia noch Mélanie kommen aus einer besonders dysfunktionalen Familie, im Gegenteil, sie stammen aus relativ „geordneten“ Verhältnissen, haben ein normales, ihrem Alter entsprechendes Verhältnis zu den Eltern, mit allen Konflikten, die im Alltag dazugehören. Das Beängstigende ist gerade, dass auch Jugendliche mit stabilem Hintergrund den infamen Manipulationsstrategien der islamistischen Terroristen zum Opfer fallen können. Natürlich spielen die Kommunikationsmedien, die sich völlig jegliche Kontrolle entziehen, eine maßgebliche Rolle, denn so haben sie Islamisten jederzeit unbegrenzten Zugriff auf ihre Zielobjekte, und diese Jungs wissen ganz genau, auf welche Knöpfe sie bei den Mädels drücken müssen. Die Indoktrinierung Mélanies ist ein wahres Lehrstück und es zeigt, dass man im Ernstfall keine Chance hat, den Prozess aufzuhalten, rechtzeitig einzugreifen. Die Eltern, die natürlich selbst in ihre eigenen Aufgaben eingebunden sind, kriegen naturgemäß nicht immer alles sofort mit, schieben viele Szenen auf typische Mädchenzickereien, und wer würde schon auf den Gedanken kommen, dass die eigene Tochter, die man trotz allem so gut zu kennen glaubt, am Haken islamistischer Terroristen hängt? In vielen Parallelmontagen stellt Mention-Schaar die fassungslosen, hilflosen, zwischen Angst und Schuldgefühlen zerrissenen Eltern ihren Töchtern gegenüber, ihrer dunklen Entschlossenheit, ihrem zunehmend doktrinären Duktus, der das widerkäut, was die Manipulatoren ihnen wochenlang eingebläut haben, ihrem wachsenden Fanatismus, der buchstäblich aus dem Nichts kommt, für den es keinen einzigen nachvollziehbaren Grund gibt. Kein Missbrauch, keine Einsamkeit, keine wirtschaftliche Not, keine fundamentale Enttäuschung, nichts. In diesem schier aussichtslosen Chaos kommt der Sozialpädagogin Dounia Bouzar eine zentrale Bedeutung zu. Ihre Erfahrung, ihre Besonnenheit, auch ihre Ruhe und Klarheit sind extrem beeindruckend, und ich zumindest war heilfroh, unter all den ohnmächtigen und verirrten Gestalten hier eine Stimme zu haben, die zugleich souverän, distanziert und einfühlsam informiert, klärt, zuhört. Ihre Erläuterungen dazu, wie wenig der islamistische Terror mit dem Islam an sich zu tun hat, sind natürlich sehr wichtig, ihre Erfahrungen mit ähnlichen, vergleichbaren Fällen enorm hilfreich, und der Austausch zwischen den betroffenen Eltern, den sie behutsam moderiert, hilft vielen, etwas mehr Sicherheit und vor allem Überblick zu bekommen, den voreilige Panikreaktionen könnten den Kontakt zu den Kindern endgültig zerstören. Bouzar macht andererseits deutlich, dass auch radikale Methoden angebracht sind, und so verhängen Sonias Eltern eine strikte Ausgangs- und Handysperre, was einem waschechten Entzug gleichkommt, und wir erleben auch, wie sehr sie zunächst darunter leidet, bis dann das Ärgste erst mal vorbei ist. Terror ist radikal und die Maßnahmen, die man zu seiner Bekämpfung ergreifen muss, müssen fast zwangsläufig auch radikal sein. Die eiskalte, kalkulierte Rücksichtslosigkeit der Dschihadisten ist in Kombination mit Beeinflussbarkeit und Leichtgläubigkeit der jungen Opfer eine sehr gefährliche, mächtige Waffe, und „Le ciel“ zeigt diese Gefahr ganz abseits großer Horrorszenarien in einem ganz privaten Umfeld, in dem der Horror fast noch schlimmer und destruktiver zur Wirkung kommt.

 

   Alles in allem ein wirklich fabelhafter, sehr spannender, anregender und interessanter Film, der es sich und uns nicht leicht macht. Differenziert, tiefgründig, gefühlvoll, brillant gespielt, und angesichts des überaus heiklen, komplexen Themas völlig angemessen und überzeugend. Erneut hochklassigstes Kino aus Frankreich – na also, sie können‘s doch noch… (28.3.)