Le jeune Karl Marx (Der junge Karl Marx) von Raoul Peck. Frankreich/ Belgien/BRD, 2016. August Diehl, Stefan Konarske, Vicky Krieps, Hannah Steele, Olivier Gourmet, Alexander Scheer, Michael Brandner, Hans-Uwe Bauer
Gut, ich geb zu, von einem Film von Raoul Peck hatte ich anderes, vielleicht besseres erwartet. Der Regisseur solch großartiger, starker Werke wie „Der Mann auf dem Quai“ oder „Sometimes in April“ schien die ideale Wahl für das Projekt, weil er es perfekt versteht, Politik und Emotionen zu einer extrem wirkungsvollen Mischung zu verbinden, ohne dabei die Substanz zu gefährden. Das ist Peck in seinem Marxfilm zugegeben nicht in gleichem Maß gelungen, was ihm entsprechende Kritik des progressiven Feuilletons eingebrockt hat – und natürlich einiger Blätter, die noch nicht mal verstehen, wie man überhaupt einen Film über Karl Marx (den Antichrist, pfui Teufel) machen kann. Statt einer überaus kontroversen, sperrigen, komplexen Persönlichkeit eine adäquate Kinoversion gegenüberzustellen, entschied sich Peck überraschenderweise für ein sehr konventionelles, künstlerisch und formal wenig ambitioniertes Biopic, daran ist wohl nicht zu rütteln. Sowas in der Art dachte ich zwischendurch auch so bei mir, fand mich andererseits aber durchaus bewegt und gespannt, folgte den gesamten zwei Stunden mit anhaltendem Interesse. Also hat Peck wohl doch nicht alles falsch gemacht, er hat diesmal allerdings eine Entscheidung klar gegen den künstlerischen Anspruch und zugunsten einer größeren Publikumswirksamkeit getroffen, was man ihm zurecht vorwerfen könnte, wofür es aber einige ganz gute Gründe gibt, gerade wenn man an das schwierige, theorielastige Thema denkt. Zum Beispiel das, was ich eben noch im Zeitungsinterview las. Raoul Peck gibt darin zu Protokoll, den Film unter anderem auch für junge Menschen gemacht zu haben in der Absicht, ihnen dieses elementar wichtige Thema mal wieder näher zu bringen. Und eine solche Absicht rechtfertigt doch eine ganze Menge, sollte man meinen, solange wir nicht über Geschichtsverfälschung oder puren Blödsinn reden. Und davon ist „Der junge Karl Marx“ ganz sicher weit entfernt.
Behandelt werden die kurzen fünf Jahre zwischen 1843 und 1848, jenes Jahr also, in dem das Kommunistische Manifest erschien. Zu Beginn sehen wir Karl Marx in Paris, Ehemann, Vater eines Kindes und notorisch am Rand des Existenzminimums, ein streitbarer, kompromissloser Denker und Theoretiker, der sich gleich zu Beginn in der Redaktion einer Zeitung mit den anderen Mitgliedern darüber auseinandersetzt, wie man den angestrebten Kampf gegen die Ungerechtigkeiten des Feudalismus zu gestalten habe. Draußen klopft schon die Obrigkeit in Gestalt bewaffneter Uniformträger an die Tür, doch Marx hat keine Angst, weiß genau, dass es auch in Zukunft noch viele Kämpfe und vorübergehende Niederlagen durchzustehen gilt. Die Familie wird des Landes verwiesen, zieht nach Brüssel, die wirtschaftlichen Verhältnisse entwickeln sich dramatisch, und Marx lernt Friedrich Engels kennen, einen Industriellensohn, der sich mit einer Studie über die Lebensbedingungen der Arbeiter im nordenglischen Industrierevier hervorgetan hat. Darin beweist er, dass er sowohl die Perspektive der Kapitalisten, der Ausbeuter also, als auch die der Arbeiter, der Ausgebeuteten kennt und versteht. Was Marx zunächst überaus suspekt ist, stößt bei ihm zunehmend auf Respekt und erdet vor allem seine komplexen, oft aber zu abstrakten Abhandlungen und Traktate. Beide sind junge Männer von Mitte zwanzig, ungestüm, furchtlos, manchmal auch selbstgerecht und hochmütig, und es ist vor allem Marx, der immer wieder darauf pocht, der größer und wichtiger werdenden proletarischen Bewegung ein ideologisches Fundament zu verpassen, und der gleichsam darauf hinweist, dass hier von einem fundamentalen Klassenkampf die Rede ist, und dass es keine Alternative und keine Schönrednerei geben kann. Proletarier aller Länder und so weiter – all die vielen längst ausgelatschten Parolen, die uns heute so unglaubwürdig und überholt erscheinen, hören wir plötzlich in ihrem originären Kontext, und plötzlich erscheinen die Sätze gar nicht mehr lächerlich und klischeehaft, plötzlich wird auch die ungeheure Dringlichkeit der Sache nachfühlbar. Es ging hier um die Zukunft, um die Frage, wohin sich die Menschheit wenden, wie der weitere Weg der Industrialisierung verlaufen solle. Mehr als einmal schaudert’s einen beim Sehen dieses Films, einfach weil diese beiden jungen Männer schon alles vorhergesehen haben, weil so viele von ihren Theorien und Gedanken heute noch beängstigend aktuell und voll gültig sind. Alles über Gier, Ungleichheit, Ausbeutung, Entfremdung, alles halt, was den modernen Kapitalismus noch immer ausmacht und prägt. Die Reduzierung des Einzelnen auf seinen Warenwert (Humankapital oder human resources, nicht wahr…), die Anbetung des Götzen Geld, die krankhafte Fokussierung auf Gewinnmaximierung – alles, was uns heute krank und korrupt und noch gieriger macht, war damals bereits im System angelegt, und Marx hat es ganz klar und deutlich beschrieben und daraus seinen flammenden Kampfappell abgeleitet. Seine Radikalität stößt überall auf Widerstand, Unverständnis, Entrüstung, bringt auch jene, die ursprünglich in eine ähnliche Richtung unterwegs waren, dazu, sich abzuwenden. Persönliche, gesundheitliche und gedankliche Krisen und Rückschläge gehören dazu, turbulente Kongresse, öffentliche Auftritte, konstante Geldnot, konstante Konflikte mit Gott und der Welt, alles für sein Ziel, das Marx nicht immer ohne Zweifel, aber dennoch extrem unbeirrbar verfolgte.
Dieser Marx ist kein lauterer Held, auch Engels nicht. Wenn in vielen Kritiken darüber gemotzt wird, dass sie all ihre Werke offenkundig zwischen Wein und Party ganz nebenbei hingeschrieben haben, so denkt scheinbar keiner dieser Schreiber daran, dass es wirklich zwei junge Männer waren und sicherlich auch die Neigungen und Instinkte ganz normaler junger Männer hatten. Gerade ihre Menschlichkeit macht sie greifbar, bringt sie uns nahe, und ich denke nicht, dass es ein Sakrileg ist, diese beiden bedeutenden Theoretiker als Menschen zu zeigen, ganz im Gegenteil. Peck verrät die Substanz nicht an die Gefälligkeit, ihm gelingen höchst intensive, eindringliche Momente, in denen wir auch hundertsiebzig Jahre später noch begreifen, welch enorme Dimension die Themen hatten, um die damals gestritten wurde. Und Peck macht aus seinem eigenen Herzen keine Mördergrube – trotz all der grauenhaften Perversionen, die Marx‘ Theorien im Laufe der Jahre erlitten haben, trotz all der monströsen, diktatorischen Arschlöcher, die sich seines Namens bedient, ihn für ihre eigenen Zwecke missbraucht haben, angeblich im Namen des „Kommunismus“, sind seine Texte noch immer von frappierender Wichtigkeit und Gültigkeit. Wer heute bei der Nennung des Namens Karl Marx die Nase rümpft, meint vermutlich gar nicht Karl Marx selbst, sondern all die, die seinen Namen für ihre eigenen Machtinteressen in den Dreck getreten haben, und davon gibt‘s wahrlich viele.
Eine brillante Auftaktsequenz, die Marx‘ Rechtsverständnis maximal bildhaft und einleuchtend erklärt, und eine schön polemische Abschlussmontage, die quasi im Schweinsgalopp durch all die Menschheitskämpfe nach Marx reitet, machen klar, dass der Film trotz seiner wenig aufregenden Form dennoch eine Herzensangelegenheit Pecks gewesen sein muss. Er ist unterhaltsam, mitreißend, blendend gespielt – August Diehl und Stefan Konarske sind zwei sehr charismatische Hauptdarsteller – und, was für mich persönlich am wichtigsten ist, er könnte mich dazu inspirieren, mich mehr mit der Zeit und dem Thema zu beschäftigen. Und damit hat er, was mich betrifft, seinen Zweck voll erfüllt. (8.3.)