Detroit von Kathryn Bigelow. USA, 2017. John Boyega, Will Poulter, Algee Smith, Jacob Latimore, Jason Mitchell, Anthony Mackie, Hannah Murray, Kaitlyn Dever, Jack Reynor, Ben O’Toole, John Krasinski, Joseph David-Jones

   Der Sommer der Liebe war, das zeigt Kathryn Bigelow uns hier ziemlich drastisch, nicht für alle. Vielleicht für die Flower-Power-Kids in Frisco oder die Säureköpfe in L.A. oder die Surfer Boys der Pazifikstrände. Aber anderswo in den Staaten sah es eben anders aus – zum Beispiel in Detroit. Die Motor City am Lake Michigan war 1967 noch nicht zu einer um die Hälfte geschrumpften, von Kriminalität und Strukturchaos gezeichneten Geisterstadt verkommen. Doch die Dinge begannen schon zu kippen. Zwar boomte die Automobilindustrie noch immer, doch betraf der massive Zuzug von außen nun mehr und mehr die Vorstädte, genauer gesagt die weißen Vorstädte, und das hinterließ in der City selbst ein Vakuum und vor allem große Ghettos, die weitgehend von Schwarzen bewohnt wurden. Ein Pulverfass, das angesichts der nach wie vor manifesten Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten früher oder später explodieren würde – und der Sommer 1967 war just die Zeit dafür. Nur hatte Luther King mit seiner Philosophie des friedlichen Widerstandes hier keine Chance, hier regierte sofort die Gewalt, und die wurde von beiden Seiten nach Kräften angeheizt. Die Staatsmacht ließ schwer bewaffnete Truppen auffahren, schickte die Armee, die Nationalgarde und die Staatspolizei zur Unterstützung der lokalen Kräfte, und in den Auseinandersetzungen mit den schwarzen Aufständischen wurde der stets schwelende Rassismus zünftig von der Kette gelassen und entlud sich in Form von Knüppeln, Schusswaffen, Prügeln, Drangsalierung etc.. Die Gegenseite hielt dagegen mit Steinen und Schusswaffen, Plündern, brandschatzen und dergleichen mehr, und entgegen der verzweifelten Mahnung jener, die wirklich politische Absichten verfolgten, verselbständigte sich das ganze schnell und wurde zu einer einzigen großen Aggressionsorgie, in der mögliche Ziele und Pläne buchstäblich in Rauch aufgingen.

   Das ist in etwa der Hintergrund für diese authentische Geschichte, die sich Ende Juli 67 abspielt: Sie ersten Krawallausbrüche, die ersten Straßenschlachten, die ersten Erschießungen, der massive Aufmarsch uniformierter, schwerstbewaffneter Einheiten, all dies mitten in der Stadt. Zunächst eher harmlose Situationen eskalieren binnen Minuten, weil beide Fraktionen scheinbar nur auf einen Anlass warten, um loszuschlagen, ihren Hass abzureagieren. Ein paar Einzelschicksale gibt es auch: Der schwarze Securitymann Melvin, der einfach nur seinen Job korrekt machen will. Zwei Mädels aus Ohio, die eigentlich mal in der Stadt sind, um Spaß zu haben, geraten in den Malstrom. Ein Vietnamveteran ebenso. Und eine Gang von Kumpels, die gern mal einen draufmachen und sich natürlich auch gern mal mit den Scheißbullen anlegen. Vor allem Larry, der Leadsänger einer aufstrebenden, ehrgeizigen Motown-Band namens The Dramatics, die kurz vor dem Durchbruch steht. Dann der Polizeioffizier Krauss, der schon einmal ins Visier der Mordkommission gerät, weil er einen Fliehenden in den Rücken schießt und ihn tötet. Doch bevor gegen ihn vorgegangen werden kann, ist er schon wieder unterwegs und kurz darauf werden er und zwei seiner Kollegen im Zentrum dieser Geschichte stehen. Aus irgendeinem Haus werden angeblich Schüsse auf die Einheit abgefeuert. Das Algiers Motel wird als Unterschlupf des Heckenschützen ausgemacht und gestürmt, die Detroit Police übernimmt das Kommando in Person der drei oben genannten Burschen, Army und State Police ziehen sich zurück als sie merken, dass die Situation außer Kontrolle gerät – man hat einfach keine Lust, in sowas reingezogen zu werden. Krauss und seine Jungs ihrerseits haben richtig Lust, sich die Scheißnigger mal so richtig vorzunehmen, erst recht, als sie die beiden weißen Mädels in ihren Zimmern vorfinden und das Schlimmste befürchten müssen – Rassenschande und so. Also wird die ganze Bande im Erdgeschoss an einer Wand aufgereiht, und es beginnt ein zynisch grausames Spiel, in dem die völlig verängstigten „Verdächtigen“ der Willkür, der Aggression und der Gewalt der drei Cops hilflos ausgeliefert sind. Drei von ihnen werden sterben, alle anderen misshandelt, doch nicht genug damit, in der nachfolgenden Gerichtsverhandlung haut der bewährte amerikanische Rassismus nochmal einen raus: Die all-white jury spricht Krauss und die beiden Kollegen doch tatsächlich von allen Anklagepunkten frei, und den Vertretern der schwarzen Community bleibt nachher nur, vor laufenden Kameras ihre Empörung zu äußern. Und aus dem Soulsänger, der knapp überlebt hat, wird danach ein Chorleiter, denn für ihn gibt’s keinen Weg zurück zu Motown, wo ja letztlich auch Musik für’s weiße, zahlende Establishment gemacht wird, und genau das geht jetzt nicht mehr.

   Nach „The hurt locker“ und „Zero dark thirty“ sind Kathryn Bigelow mit „Detroit“ wieder zweieinhalb hochintensive, fiebrig spannende Kinominuten gelungen, und das nenne ich mal eine beachtliche Serie. Jedesmal verbindet sie effektvolle, mitreißende Gestaltung mit inhaltlicher Substanz und dem erkennbaren Willen, etwas sagen zu wollen, und das nenne ich erst recht eine beachtliche Serie. Und das auch noch in Hollywood! Ich lese dazu im Internet, dass „Detroit“ an den amerikanischen Kinokassen nicht gerade ein rauschendes Fest gefeiert hat, und wenn soll das überraschen. Mit diesem Thema geht Bigelow direkt an den Nerv der US-amerikanischen Geschichte, und dieser Nerv liegt noch immer blank, auch fünfzig Jahre nach den Ereignissen in Detroit oder anderswo im Lande. Denn diese Exzesse sind ja nur die extreme Zuspitzung einer Struktur, die nichts weniger als die Basis der gesamten US-Geschichte bildet – nur hört sich das natürlich nicht so gut an und verträgt sich noch schlechter mit der vermaledeiten Declaration, einem der übelsten auf Papier gedruckten Witze der Weltgeschichte. Vielleicht lassen sich die Amis nach wie vor nicht so gern daran erinnern, dass ihr gelobtes Land auf einem zynischen Witz fußt, und deshalb sind sie sicherlich allzu gern in den letzten Mavelfilm gerannt und haben „Detroit“ lieber vermieden – man kommt einfach so schlecht drauf von sowas, und Herrgott, Probleme gibt’s doch auch so schon genug, oder…?

   Bigelow hat hier zum dritten Mal mit Mark Boal als Autor respektive Co-Autor gearbeitet, und diese Kollaboration bürgt echt für Qualität, und sie hat sich nach „The hurt locker“ wieder der Dienste Barry Ackroyds versichert, und der steht bekanntlich für eine semi-dokumentarische Authentizität und Intensität, die viele seiner Filme allein dadurch auf ein ganz anderes Niveau heben, und die perfekt zu Bigelows ausgefranster, episodischer Erzählung passen, die aber im entscheidenden Moment innehält und sich sehr effektvoll verdichtet, wenn es um die Ereignisse im Algiers geht. Die extrem nervöse, dünnhäutige, aufgeladene Atmosphäre in der City von Detroit wird grandios nachempfunden, überträgt sich auf uns Zuschauer in jeder Einstellung und hält uns beständig auf der Sitzkante fest. Wir werden anfangs buchstäblich hineingeschleudert in einen Taumel aus Hass, Angst, Wut und Zerstörungsdrang, der jegliche Argumentation, jeglichen Versuch, politisch zu denken und zu handeln, gründlich zunichtemacht. Bigelow bezieht in ihre sehr kritische Darstellung die schwarze Gemeinde durchaus voll mit ein, zeigt die vergeblichen Versuche einiger Aktivisten, zur Besonnenheit aufzurufen, während andere schon die ersten Steine in der Hand halten und es ihnen völlig wurscht ist, ob sie der eigenen Sache oder noch mehr auch den eigenen Leuten schaden. Gerade letzteres kommt uns Deutschen doch sehr bekannt vor, wenn wir an die törichten und total destruktiven Ausschreitungen in Hamburg in diesem Jahr denken, wo auch nur Krawalltouristen am Werk waren. Aber natürlich liegt der Fokus auf den weißen Streitkräften, auf die Art und Weise, wie hier ganze Viertel überrollt werden, wie auf Demonstranten eingedroschen wird, wie natürlich auch bedenkenlos von der Schusswaffe Gebrauch gemacht wird. Menschenrechte werden in diesen Tagen komplett außer Kraft gesetzt, und bei Bedarf sorgt die besondere US-amerikanische Rechtsprechung dann dafür, dass „überharte“ Übergriffe nicht noch nachträglich geahndet werden. Man schließt die Reihen, und die Schwarzen bleiben ohnmächtig draußen vor, so wie immer vorher und nachher. Mit der Figur des Larry Reed greift Bigelow zudem ein Thema auf, das ein spezifisch schwarzes Dilemma darstellt, zumal wenn es um Kunst und Kommerz in jener Zeit geht. Motown versinnbildlichte dieses Dilemma immer schon, und hätte Reed nicht die Erfahrung im Algiers gemacht, wäre er vermutlich auch ein Teil des Systems geworden. Eigentlich machen die Dramatics schwarze Musik für schwarze Leute, doch es sind die Weiße, die das große Geld bringen, und also muss man denen in erster Linie gefallen und sich dann und wann auch mal anbiedern. Nach Algiers kann Reed nicht mehr für die Weißen singen, er kann sie kaum noch sehen, und die Band macht ohne ihn weiter, weil die anderen nicht auf ihre große Chance verzichten wollen. Er ist zwar im Unterschied zu seinem jungen Freund und Begleiter Fred mit dem Leben davongekommen, doch das Trauma wird bis heute nachwirken. Wenn man diesen Film gesehen hat, versteht man sofort, wieso.

 

   Kamera, Schnitt und Dramaturgie leisten brillante Arbeit, Bigelow hält den Spannungspegel über die gesamte Spieldauer enorm hoch, die Schauspieler funktionieren als ein Team, aus dem niemand heraussticht und dies auch gar nicht versucht, denn dies ist kein Starkino. Dies ist großartiges politisches Kino, dessen Thema heute leider noch genauso relevant ist wie vor fünfzig Jahren, und jetzt muss mir nur noch jemand erklären, wieso jeder Marvelscheiß mindestens acht Vorstellungen pro Tag in unserer kleinen Stadt kriegt und „Detroit“ eine einzige. Aber es ist ja nicht das erste Mal, dass ich die Welt irgendwie nicht richtig verstehe… (28.11.)