Toivon tuolla puolen (Die andere Seite der Hoffnung) von Aki Kaurismäki. Finnland/BRD, 2017. Sherwan Haji, Sakari Kuosmanen, Janne Hyytäinen, Ilkka Koivula, Simon Hussein Al-Bazoon, Nuppu Koivu, Niroz Haji, Kaija Pakarinen

   Ab Mitte der 80er gehörte der olle Finne für ungefähr zehn Filme und zehn Jahre zum bewährten und geliebten Stammpersonal des Arthauskinos. Die Stimme aus dem spröden Norden, einzigartig, unverwechselbar, ein Kaurismäkifilm war sofort als solcher identifizierbar, auch wenn er zwischendurch mal in anderen Ländern wilderte und seine Geschichten den gewohnten Rahmen verließen. Nun sind seit „Le Havre“ geschlagene sechs Jahre ins Land gegangen, und schon nach den allerersten Szenen in diesem neuen Film wurde mir bewusst, wie sehr ich Kaurismäki und seiner Bilder vermisst hatte und wie schnell ich mich wieder in seinem ureigenen Kosmos zurechtfinde. Denn geändert hat sich eigentlich nicht sehr viel – gottseidank! Die Kaurismäkiwelt sieht noch immer so aus wie einst, und nur weil seit einiger Zeit Farbe hinzugekommen ist, heißt das noch lange nicht, dass sie plötzlich behaglicher, glatter geworden ist. Die Stadt ist noch immer öd und leergefegt (man sieht wirklich niemals Passanten auf der Straße!), die Innenräume sind noch immer kahl und karg möbliert, aus den historischen Musikboxen ertönt noch immer trübseliger finnischer Tango oder trübselige finnische Rockmusik, die Menschen laufen in zeitlosem Outfit herum, das sie ungefähr fünfzig Jahre zurückversetzt, schauen stoisch und traurig vor sich hin und sprechen ihre Texte noch immer mit minimalem mimischen und stimmlichen Aufwand. Ein Paralleluniversum seit jeher, und dennoch eines, das an unsere sogenannte Wirklichkeit andockt, das Bezug zu dem hat, was gerade in der „realen“ Welt geschieht, die ja wohl um nichts schöner, heller oder freundlicher ist als Kaurismäkis.

   „Die andere Seite der Hoffnung“ erzählt zwei Geschichten, die alsbald zusammengefügt werden: Khaled kommt als Flüchtling aus Syrien nach Finnland, beantragt Asyl und eine Aufenthaltserlaubnis. Die Behörden lehnen ab, er erzählt seine Geschichte, von der Bombardierung Aleppos, dem Tod der meisten seiner Angehörigen, die Trennung von seiner Schwester Miriam an der ungarischen Grenze, seine verzweifelte Odyssee hin und zurück durch Europa auf der Suche nach ihr. Sein eigenes Schicksal scheint ihm gleichgültig, er will nur seine Schwester wiederfinden, sie in Sicherheit wissen. In der Flüchtlingsunterkunft lernt er Mazdak aus dem Irak kennen, und als er selbst untertauchen muss, um der Abschiebung zu entgehen, verspricht Mazdak, sich weiterhin um Kontakt zu Miriam oder um Informationen über sie zu bemühen. Khaled wird von einer Gruppe von Nazischlägern bedrängt und verfolgt, landet auf der Straße und wird schließlich von Herrn Waldemar Wikström aufgelesen, und dies ist die zweite Geschichte: Waldemar hat eines Tages die Nase voll von seinem alten Leben. Er schmeißt der ewig alkoholisierten Gattin den Ehering hin, gibt seinen Job als Hemdenvertreter auf und verkauft seinen alten Bestand, zieht beim Poker einen Haufen Kohle ab und kauft sich dafür ein gammeliges Restaurant, erfüllt sich einen alten Traum. Er behält die dreiköpfige Belegschaft, stellt auch Khaled ein, und gemeinsam versuchen sie, den maroden Laden wieder in Schwung zu bringen, was schlussendlich nach einigen skurrilen Abwegen und glimpflich überstandenen Kontrollen auch halbwegs klappt. Miriam wird schließlich gefunden und nach Finnland geschmuggelt, wo sie gegen den Rat ihres Bruders ebenfalls Asyl beantragen will. Khaled hat einen gut gefälschten Pass in der Tasche, hat einen Job bei Waldemar und eine bleibe in Waldemars altem Hemdenlager, doch die Nazigang rückt ihm wieder auf den Pelz, und am Ende sticht ihm einer der Nazischläger sein Messer in den Leib. Aber vielleicht überlebt er ja doch. Und Waldemar trifft seine Frau wieder, die den Ehering noch um den Hals trägt, die nun trocken ist und einen Kiosk betreibt, und vielleicht kann er sie sogar für sein Restaurant anwerben.

 

   Ein wunderbar lakonisches und dennoch gefühlvolles Märchen mit Blick für die Realität der Dinge. Kaurismäkis Art, das sogenannte Flüchtlingsproblem in seine Geschichte zu integrieren, hat nichts Wohlfeiles oder Beliebiges, Khaleds und Miriams Biographien sind die Biographien unserer Zeit – Krieg, Tod, Flucht, Missbrauch, Entwurzelung, Erniedrigung. Die Behörden sind ungerührt, reiten Paragraphen wie überall anderswo auch, die Maschinerie der Bürokraten ist unbarmherzig wie überall anderswo auch, die Nazischläger auf der Straße sind die gleichen wie überall anderswo auch. Dem setzt Kaurismäki ganz bewusst und demonstrativ seine kleine Gruppe von solidarischen Menschen gegenüber, die ohne pompöses Getue, ohne große Gesten oder Sprüche helfen, einfach weil sie Menschen sind und die, die in Not und Armut gerieten, auch Menschen sind. Ich würde deshalb von einem Märchen sprechen und zugleich hoffen, dass es nicht nur ein Märchen ist und dass sich Geschichten wie diese hier auf die eine oder andere Weise auch im tatsächlichen Leben mal abspielen. Solidarität, das ist das Stichwort hier, das ist der Traum, den auch einer wie Ken Loach noch immer träumt, den auch Kaurismäki selbst früheren Filmen (zum Beispiel eben „Le Havre“) bereits formulierte und dem er auch hier mit seiner kleinen Gruppe zusammengewürfelter Leute wieder Gestalt verleiht. Khaleds Erzählungen sind erschütternd, manche Reaktionen, die ihm begegnen, ebenfalls, doch es gibt eben ein Gegengewicht, es gibt Menschen, die ihm zuhören und ihm helfen, und das ist entscheidend. Und es gibt, allerdings eher in Wikströms Geschichte, jede Menge herrlichsten Humors, trocken, absurd, typisch Kaurismäki. Die schrägen Dialoge, die stoischen Leute, der irre Mechanik, mit der Wikströms Geschichte abläuft und natürlich seine wilden Erlebnisse im Restaurant machen schon viel Spaß. Wikström ist einer jener unbeirrbaren, aufrechten Kaurismäkihelden, die uns in früheren Filmen schon immer über den Weg gelaufen sind, ein Typ in Anzug und Krawatte, ein echtes Pokerface, total aus der Zeit gefallen, und er trifft nun auf jemanden wie Khaled, der überaus konkret in die heutige Zeit gehört und auf den ersten Blick null Berührungspunkte mit Wikström hat. Wie Kaurismäki nun diese beiden Welten zusammenführt, hat mir noch besser gefallen als in „Le Havre“. Also, gut, dass er wieder das ist, gut, dass er noch immer da ist, und wegen mir muss nicht immer gleich ein halbes Jahrzehnt bis zum nächsten Wiedersehen ins Land gehen. Das skandinavische Kino braucht diese Stimme auf jeden Fall. (15.3.)