Die Blumen von gestern von Chris Kraus. BRD/Österreich, 2016. Lars Eidinger, Adèle Haenel, Jan-Josef Liefers, Hannah Herzsprung, Sigrid Marquardt, Rolf Hoppe
Egal, wie man im Einzelnen zu diesem Film stehen mag, er macht auf jeden Fall eines richtig: Er polarisiert, er provoziert, er reizt zu vehementem Widerspruch genau wie zu begeisterter Zustimmung, allgemein jedenfalls zur Auseinandersetzung. Er erzeugt sogar einen geradezu kindisch empörten Verriss im Spiegel, also besser kann es gar nicht laufen. Er erzeugt auch einige besonnenere Rezensionen, die sich viel eher auf Kraus‘ Absichten einlassen, und dann sieht alles schon ganz anders aus. Er hat den Schneid, sich konsequent und rücksichtslos zwischen alle Stühle zu setzen und thematisch vor allem die eine heilige Kuh unserer bundesdeutschen Befindlichkeit aufs Korn zu nehmen, nämlich unsere Vergangenheitsbewältigung oder das, was an Stelle dessen in den letzten siebzig Jahren gelaufen ist. Kein leicht verdaulicher Brocken auf jeden Fall, sperrig, kontrovers, angriffslustig, gnadenlos schräg und je nach Sichtweise vulgär oder brillant – am besten irgendwo dazwischen. Diskussionswürdig in jedem Fall, und wie oft hat man das schon?
Man geht dem Film jedenfalls voll auf den Leim, wenn man an ihn die Maßstäbe eines ordentlichen, psychologisch fundierten Charakterdramas anlegt, eine Dummheit, wie sie beispielsweise in der Spiegel-Besprechung zutage tritt. Für sich genommen wird keine der hier anwesenden Personen „korrekt“ und differenziert behandelt, und sie handelt auch nicht so, aber gerade darin liegt ja der Witz, finde ich. Wir sehen den Holocaust-Forscher Toto, einen bierernsten, verbissenen, geradezu fanatisch gewissenhaften Typen, der im Grunde total verstört und verkorkst ist. Selbst Sprössling einer Nazifamilie, selbst sogar in seiner Jugend im Sog des bewunderten Opas ein Nazi auf Zeit gewesen, und nun eben ein Hundertprozentiger, der neben seiner Arbeit nichts gelten lässt, erst recht keine Kompromisse, ein Mann, der seine Frau mit anderen vögeln lässt, weil er selbst nicht kann, der innerlich aber jedesmal die Wände hochgeht, wenn sie wieder unterwegs ist. Sein Chef in der Forschungszentrale in Stuttgart und ursprünglich mal bester Freund Balti ist ungefähr das genaue Gegenteil von ihm, weshalb er ihn aufrichtig hasst, weil er dauernd irgendwelche Deals machen, das Geschäft verkaufen, verwässern, verraten will, und eines Tages poliert er Balti mal so richtig die Visage, als es um den heiligen Auschwitz-Kongress geht, der nun plötzlich mit Mercedes-Benz-Sponsoring veranstaltet werden soll. Aus Rache drückt Balti ihm eine junge französische Praktikantin auf. Zazie stammt aus einer jüdischen Opferfamilie, hat mit Balti ein Verhältnis, ist aber Toto eigentlich viel näher, denn sie ist genauso widersprüchlich und verdreht wie er, suizidal, bipolar und was sonst noch. Sie versucht, dem verstockten, lebensfremden Toto ein wenig auf die Sprünge zu helfen, was bei ihm zunächst maximal aggressive Resistenz hervorruft, doch irgendwie und irgendwann kommen sich die beiden dann doch näher, zumal sie entdecken, dass ihre Großmutter die gleiche Schule besuchte wie sein Großvater. Ihre Spurensuche in Wien und Riga ist allerdings eher verstörend als befreiend, und so kriegen sie es nicht hin, ihre beginnende Zuneigung in eine vernünftige Bahn zu lenken. Ihre Wege trennen sich, nach fünf Jahren begegnen sie sich zufällig im New Yorker Weihnachtseinkauf wieder, sie lebt mittlerweile mit ihrer Tochter in einer lesbischen Beziehung, er lebt noch mit seiner Frau und ihrer gemeinsam adoptierten Tochter zusammen, forscht nun zum Thema Genozid im Allgemeinen und erstarrt im Schlussbild, als er mitkriegt, dass Zazie ihrer Tochter just jenen Namen gegeben hat, den sie einst ihrem Kind geben wollten, denn Zazie hatte damals behauptet, von ihm schwanger geworden zu sein, dies später jedoch wieder abgestritten.
Die erste Stunde des Films ist schlicht hinreißend, eine wüste, schrille, zotige, böse Farce mit brillant witzigen Dialogen und komplett überdrehten Typen, die fast schon an alte Screwball-Filme erinnern. Wer einen seriösen Thesenfilm zum Thema Shoah und Auschwitz erwartet hat, wird in dieser Stunde früher oder später den Saal räumen, und in der Reihe vor mir regte sich auch beträchtliche Unruhe, denn natürlich muss man sowas mögen, muss Spaß haben an dieser Art von Humor. Die deutsche Vergangenheitsbewältigungsmaschinerie wird gründlich aufs Korn genommen, Betroffenheitsposen und Geschäftstüchtigkeit einander gegenüber gestellt, gewissenhafter Ernst und tiefe Verlogenheit immer wieder zusammengebracht, kein Stein bleibt auf dem anderen, nichts ist heilig oder unantastbar. Auch nicht die Auschwitzüberlebende Frau Rubinstein, ein garstige, zutiefst sarkastische alte Dame, die längst das ganze Theater durchschaut hat und nun mit ihrem Status spielt, die Leute gezielt brüskiert und vor allem gar keine Lust mehr hat, immer wieder über Auschwitz zu sprechen. In ihrer Person bündelt sich der Film zu einem guten Teil, die ganze Zwiespältigkeit, der Widerstreit der Rollen, Haltungen, Gefühle. Natürlich weiß sie, dass sie Auschwitz nie loswerden wird, immer damit leben muss, so wie sie seit über siebzig Jahren damit lebt, und sie hat den feierlichen, fast schon devoten Ernst all der Fragesteller satt, die sie immer nur auf das Opfer reduzieren und sie nie wie einen Menschen aus Fleisch und Blut behandeln, weshalb sich auch der arme Toto von ihr einige deftige Hiebe unter die sprichwörtliche Gürtellinie gefallen lassen muss. Chris Kraus geht als Autor und Regisseur ziemlich genau so vor. Ich käme niemals auf den Gedanken, dass er den Holocaust und die Opfer in irgendeiner Form banalisiert oder denunziert, er möchte anscheinend nur zu einer anderen Form der Auseinandersetzung anregen, vielleicht einer ehrlicheren, die vor allem den Opfern eher gerecht wird. Das Komitee in Stuttgart ist ein bitterböses Zerrbild all der aufrechten, ernsthaften Forscher, die aufklären, verarbeiten möchten, die eigentlich wohl vor allem Wiedergutmachung leisten möchten auch da, wo sie beim besten Willen nicht möglich ist. Einer wie Toto sieht sich selbst als Täter, widmet sein ganzes Leben dieser Sache, der er niemals auf den Grund gehen wird, weil all die persönlichen Verstrickungen und psychischen Verformungen genau das verhindern, nämlich einen klaren Blick auf die Vergangenheit. Dies ist eine Generation, die nachholen will, was die vorige, die Generation der Söhne vorsätzlich versäumte, weil sie sich anderweitig engagieren wollte. Toto ist ein selbstgerechter Wüterich, der sich offenbar ständig bestrafen will für etwas, das sein Großvater anrichtete, vielleicht auch für den Irrweg, den er selbst als Jugendlicher kurzzeitig einschlug. Diese Selbstgerechtigkeit äußert sich zunehmend aggressiv, auch gewalttätig, was seinem Anliegen natürlich nachhaltig schadet und seiner Glaubwürdigkeit und Integrität sowieso. Lars Eidinger spielt das klasse, einen fanatischen, verbohrten, innerlich total verdrehten Mann, der unbedingt befreit werden muss, dies aber aus eigener Kraft nicht hinkriegt. Seine Frau schafft das nicht mehr, hat längst den Kontakt zu ihm verloren, also macht sich Zazie ans Werk, doch die hat eigentlich genug mit sich zu tun, denn hinter ihrer scheinbar so sicheren Lebenslust verbergen sich ebenfalls heftige Abgründe. Also ergeben sich jede Menge absurde, groteske Momente, die Eidinger und die fabelhafte Adèle Haenel mit Lust am Grenzwertigen ausspielen.
Und genau so werden auch unsere Grenzen ständig getestet, gereizt, meinetwegen auch mal überschritten, aber das finde ich völlig legitim, wir sind ja frei, darauf zu reagieren, und wer damit absolut nicht klarkommt, kann immer noch gehen. In die bissige Satire mischt sich immer wieder das Drama der Vergangenheit, dem man sich einfach nicht entziehen kann, zumal als Opfer- oder Täterkind nicht, und dem man sich eben auch nicht entziehen sollte. Nur sehen wir hier überall Leute, die das paradoxerweise doch tun, obwohl sie alle vielleicht die besten Absichten haben. Die einen befinden sich auf einem hoffnungslos verirrten persönlichen Feldzug und manövrieren sich damit ins Abseits, die anderen stellen sich in den Dienst der Betroffenheitsindustrie und laden einen Anzugträger von Daimler ein, um auszuloten, wie man den Event möglichst profitabel und effektvoll aufziehen könnte. Dazwischen sehen wir Frau Rubinstein, die einst Auschwitz überlebte und die nun die Aufgabe hat, auch noch den Auschwitzkongress zu überleben. Das gelingt nur mit einer gehörigen Portion Zynismus. So könnte man „Die Blumen von gestern“ zusammenfassen – ein Farce mit Blick für die Realität, die durchschütteln, vor den Kopf stoßen und eben dadurch zur Diskussion anregen will, und ich finde, dass Chris Kraus damit ein sehr bemerkenswerter und zum Teil irre komischer Film gelungen ist, der noch interessanter ist und noch viel weiter geht als Filme wie „Mein Führer“ oder „Heil!“, einfach weil er es uns nicht ganz so leicht macht, ihn als reine Komödie zu sehen. (13.1.)