Ma loute (Die feine Gesellschaft) von Bruno Dumont. Frankreich, 2016. Fabrice Luchini, Valeria Bruni Tedeschi, Juliette Binoche, Raph, Brandon Lavieville, Didier Despres, Cyril Rigaux, Jean-Luc Vincent, Thierry Lavieville, Caroline Carbonnier, Laure Dupré

   Also, meine bessere Hälfte kann nicht behaupten, ich hätte sie nicht gewarnt. Eine schräge Sache wird das, hab ich vorher gesagt, aber dass sie so schräg ist, hätt ich auch nicht gedacht, ganz ehrlich. Die letzte Reihe, die geschlossen kurz vor Schluss entrüstet den Saal verließ, wird das sicherlich bezeugen, obwohl ich mich nachher fragte, wieso die über hundert Minuten ausgehalten haben, nur um dann zehn Minuten Lebenszeit zu sparen. Aber was geht mich die letzte Reihe an…

   Bruno Dumont, der mich zuletzt mit der höchst skurrilen…tja, soll ich sagen Krimiserie „P’tit Quinqin“ bestens unterhalten hat, dreht hier die Schraube nochmal kräftig an und kredenzt uns eine bitterböse Farce, auf die Onkel Luis wirklich stolz gewesen wäre. Der hatte es ja auch immer mit der Bourgeoisie, seinem Lieblingsfeind und Opfer zahlloser genüsslicher Tiraden, doch so wild hat selbst er es nie getrieben, daran sieht man vielleicht den „Fortschritt“ der Zeit oder so ähnlich.

   Früh im letzten Jahrhundert in einem idyllischen Teil der französischen Nordküste – irgendwo in der Picardie im Dunstkreis von Calais, Roubaix, Lille und Tourcoing, trifft sich die Familie Van Peteghem zur Sommerfrische in einer neo-ägyptischen Villa, dem Typhonium (die gibt’s wirklich, haben ich nachgelesen!). Man genießt den eigenen Luxus und schaut sich amüsiert die pittoresken einheimischen Miesmuschelsammler und Fischer an, die in heruntergekommenen Hütten hausen und die wiederum die reichen Städte mit Abscheu betrachten und höchstens was mit ihnen zu tun haben, indem sie sie für kleines Geld über einen der vielen wasserarme hinter den Dünen bugsieren. Zeitgleich streift ein monstermäßig dicker Polizist mit seinem Adjutanten durch die Gegend auf der Suche nach einigen Vermissten, die hier in zunehmendem Ausmaß abhandenkommen. Wir erfahren bald, wie das geschieht: Die ahnungslosen Touristen werden von Vater und Sohn Brufort niedergeschlagen, daheim von der Mama zu Gulasch zerhackt, um anschließend von der ganzen Bagage verspeist zu werden. Interessant wird’s, als Sohn Bruford mit einer der Töchter aus der Van Peteghem-Familie anbändelt und sich nebenbei die Zahl der Vermisstenfälle drastisch erhöht. Nach einer Rettungsaktion zugunsten des jungen Liebespaares steht Vater Bruford zunächst noch als Held da, doch früher oder später muss sein Sohn gegen die barbarischen Nahrungsbeschaffungsmaßnahmen aufbegehren, und so werden schlussendlich gleich drei Van Peteghems vor dem Fleischwolf gerettet, und unser dicker Polizist steht plötzlich als Held da, was ihn buchstäblich abheben lässt…

   Den Film kann man schriftlich eigentlich auch nur unvollkommen wiedergeben, man muss ihn einfach sehen, und sehen heißt in diesem Falle durchstehen, keine Frage. Die erste Stunde ist grandios, ein irre komisches, schrilles, fieses Zerrbild einer Gesellschaft zwischen Dekadenz, Kretinismus, Inzucht und Barbarei. Der Begriff „Schwarzer Humor“ gibt nur ungenau wieder, was Dumont da teilweise vom Stapel lässt, und Zartbesaitete und solche, denen die Kategorie „Guter Geschmack“ etwas bedeutet, sollten vielleicht eher vom Kinobesuch absehen. Alle übrigen kriegen eine heftige Klatsche surrealer, grotesker Karikaturen und Kabinettstückchen serviert. Die Van Peteghems, zumindest die Elterngeneration, sind ein degenerierter Haufen debiler, von ständigen inzestuösen Exzessen deformierter Gestalten, und auf der Gegenseite bieten die Brufords einen nicht minder erbarmungswürdigen Anblick als halbwilde, unartikulierte Küstenbewohner mit einer Vorliebe für rustikale Metzgereitechnik und Kannibalismus. Die Brücke zwischen diesen beiden denkbar inkompatiblen, durch gegenseitige Verachtung und gegenseitigen Hass getrennte Welten bauen die beiden Liebenden – Billie Van Peteghem, Junge oder Mädchen, das bleibt bis zuletzt offen, möglicherweise ein zweigeschlechtliches Wesen, das mal als Junge, mal als Mädchen erscheint, und der junge Bruford („Ma Loute“ im Originaltitel), der das aparte Mädchen Billie so lange liebt, bis er plötzlich fühlt, dass sie Eier hat, was er dann nicht mehr so lustig findet und seinem Repertoire entsprechend mit brutalen Fausthieben quittiert.

 

   Dumont ist hier rein gar nichts heilig, sämtliche Autoritäten werden komplett lächerlich gemacht, der dicke Inspektor ist vor allem für den grob physischen Slapstick zuständig (auch das kann man nicht beschreiben, man muss es sehen und genießen), die zwischenzeitlich anrückenden Soldaten entnerven mit minutenlangem Fanfarengetute, die jährliche Prozession zu Ehren der Heiligen Jungfrau Maria ist auch eine ziemlich zerzauste Veranstaltung, und zuletzt erheben sich nacheinander gleich mehrere Protagonisten in die Lüfte und schweben wenigstens für kurze Zeit über den Dingen. Man frage bitte nicht nach einer ernsthaften Interpretation, ich glaube, das ginge an Dumonts Haltung ziemlich vorbei, und gerade darin kommt er Luis Buñuel wohl am nächsten. Das hier ist keine geordnete Satire, kein klar strukturiertes und zu deutendes Gesellschaftsporträt, ganz im Gegenteil. Auch Durchhänger müssen in Kauf genommen werden, wenn der Film zwischendurch gänzlich in Apathie versackt, so als sei Dumont mal kurz gar nichts eingefallen und er nur einige Minuten verplempert, bis ihn wieder eine Inspiration anspringt und der Spaß weitergehen kann. Auch ich würde mal behaupten, dass gut und gern zehn Minuten hätten fehlen können, ohne dass der Substanz des Films ernsthafter Schaden zugefügt worden wäre, aber dieses Fehlen einer stringenten Dramaturgie mit allen Nebenwirkungen gehört zu Dumonts Filmen allgemein, auch zu den älteren, die ich einst im TV-Nachtprogramm sehen konnte. Damit attackiert er natürlich zusätzlich noch unsere mittlerweile gründlich korrumpierten Seherwartungen, die nur noch Sensationen in dichter Abfolge erwarten und es absolut nicht ertragen können, wenn mal über einen gewissen Zeitraum nichts oder nicht viel passiert. Dieser Fraktion sei ebenfalls dringend vom Besuch des Films abgeraten. Wer aber Spaß an tieftiefschwarzer, abgründiger, aberwitziger Anarchie hat und wer solch brillanten Leuten wie Luchini, Binoche oder Bruni Tedeschi mal dabei zuschauen möchte, wie sie so richtig auf die Kacke hauen, dem wiederum sei der Besuch des Films dringend angeraten. Er verspricht auf jeden Fall ein Erlebnis, das wahrlich nicht häufig ist im Kino, und verspricht auch (was mich persönlich besonders erfreut hat) einen satten Schlag in die Fresse der Wohlfühlliga, die hier todsicher auf Grundeis laufen wird. Aber keine Sorge, liebe Frascatitrinker, in der Trailershow vorneweg werden schon die nächsten netten französischen Komödien angekündigt, da ist die Welt dann wieder so richtig in Ordnung. (1.2.)