Mal de pierres (Die Frau im Mond) von Nicole Garcia. Frankreich/Belgien, 2016. Marion Cotillard, Alex Brendemühl, Louis Garrel, Brigitte Roüan, Victoire du Bois, Aloïse  Sauvage, Ange Black-Bereyziat

   „Die Frau im Mond“ ist bei Licht besehen eine zweistündige Soloshow für Marion Cotillard. Es mag fünf Minuten oder so geben, in denen sie nicht zu sehen ist, gegenwärtig ist sie dennoch, und das ist für mich persönlich absolut okay, denn Marion Cotillard ist ohnehin eine der faszinierendsten Schauspielerinnen der letzten zehn Jahre, und solange sie den Spagat zwischen „Assassin’s Creed“ und europäischem Arthouse weiterhin so gut hinkriegt, soll’s mir recht sein.

   Und das hier ist Arthouse, die Verfilmung eines Bestsellers, den ich nicht kenne (und wohl auch nicht kennenlernen werde), weswegen mich auch die empörten Stimmen, die dem Film eine grobe Verfälschung des Romans vorwerfen, nicht interessieren. Für sich genommen ist dies in Melodrama, ein Liebesdrama, eine Psycho-Erotiktragödie, die im Trailer eher wie Rosamunde Pilcher rüberkommt und mehr als mulmige Erwartungen in mir geweckt hat, die in der Vollversion jedoch deutlich mehr zu bieten hat.

   Eine Frauengeschichte: Gabrielle wächst auf in der Provence der 50er, eine junge Frau, die aneckt, die aus dem vorgesehenen Rahmen fällt, die zwischen romantischen Schwärmereien und intensiven sexuellen Sehnsüchten schwankt und natürlich für die gestrengen Eltern, die beengte Dorfgemeinschaft und die verschreckten Männer darin eine konstante Bedrohung darstellt. Nachdem sie bei einem Dorffest einen erneuten Eklat provoziert und ihren Lehrer vor versammelter Gemeinschaft in arge Bedrängnis gebracht hat, stellt Mama sie eiskalt vor die Wahl: Geschlossene Unterbringung oder Ehe (ist in diesem Fall dasselbe…). Sie schnappt sich José, einen der spanischen Saisonarbeiter, die auf den Lavendelfeldern schuften dürfen, und bietet ihm einen Deal an: Du heiratest meine Tochter, dafür helfe ich dir, dein eigenes Baugeschäft eröffnen zu können. José, ein ehemaliger republikanischer Kämpfer im spanischen Bürgerkrieg und Flüchtender vor Francos Faschisten, denkt nicht lange nach, denkt praktisch, genau wie die Mama, und selbst Gabrielle wählt das kleinere Übel, macht José aber gleich unmissverständlich klar, dass im Bett zwischen ihnen nichts laufen werde. Von diesem Vorsatz rückt sie zwar wieder ab, doch wirklich erfüllend ist der eheliche Sex offensichtlich nicht. José, ein schweigsamer, karger Mann, bemüht sich auf seine Art um sie, baut ein richtiges Haus und zieht bald ein erfolgreiches Geschäft auf, das ihnen eine komfortable Existenzgrundlage schafft, doch träumt Gabrielle von anderen Dingen, und die kann ihr José offensichtlich nicht bieten. Schließlich landet sie für mehrere Wochen in einem Bergsanatorium zur Heilung ihrer chronischen Nierenkoliken (die Steinkrankheit des Originaltitels) und lernt dort André kennen, einen verwundeten Offizier aus dem Indochinakrieg, der noch immer im Gang ist. André ist ein anämischer, blasser, geschwächter Typ, aber einer, der etwas in Gabrielle anstößt, und tatsächlich überwindet Gabrielle alle Bedenken und Einwände Andrés, und nachdem er wider Erwarten aus der Klinik in Lyon, bormalerweise die Endstation für todkranke Patienten, zurückgekehrt ist, landen die beiden im Bett. Ihr Mann holt sie nach Hause, sie ist schwanger, sie erzählt ihm von der Liebesgeschichte, er hält verzweifelt an ihrer Ehe fest, während sie Brief um Brief an den Geliebten schreibt, ohne je eine Antwort zu erhalten. Jahre vergehen, ein Sohn wird geboren, wird ein Pianist wie der vermeintliche Vater André, und als sie zu dritt nach Lyon fahren, um den Sohn zu einem Talentwettbewerb zu begleiten, stößt sie plötzlich auf jene Adresse, an die sie all ihre Briefe geschickt hat.

 

   Just in diesem Augenblick nimmt die Geschichte eine abrupte, für mich völlig unerwartete Wendung, die dem Ganzen eine wirklich tragische Dimension gibt. Das finale Happy End, in dem Gabrielle und José scheinbar doch noch zusammenfinden, wirkt unmotiviert, lässt vor allem Gabrielle irgendwie im Stich, will für mein Gefühl nicht ganz dazu passen, aber das ist auch der einzige Misston in diesem Film. Ansonsten hat Nicole Garcia ein durchaus eindrucksvolles, sehr ausdrucksstarkes Drama geschaffen, die Geschichte einer Frau, die es sich erlaubt, anders, stärker zu fühlen und zu wollen, als es Frauen nach allgemeiner Ansicht zusteht, zumal in jener Zeit in den 50ern und 60ern, also kurz nach dem Mittelalter. Eine archaisch-ländliche Gesellschaft, stark vom Glauben geprägt, mit entsprechend klaren Rollenverteilungen für Mann und Frau, und da gehört es sich einfach nicht, dass eine Frau sowas wie sexuelle Sehnsüchte hat, oder die sogar auch noch äußert, oder, noch schlimmer, diese offen an einen Mann heranträgt. Eine Vermählung hat zumeist wenig mit freiem Willen zu tun, wird oft arrangiert im Interesse der beteiligten Familien, und die Frau hat sich selbstverständlich unterzuordnen und dem Mann ein braves Weib zu sein. Gabrielles Mutter, streng, starr, selbst vermutlich ziemlich verbittert, steht für dieses System, und das reagiert auf Abweichungen zumeist unbarmherzig. José wiederum, der sicherlich einer ganz ähnlichen Gesellschaft entstammt, hat schon länger ein Auge auf die schöne Gabrielle geworfen, sieht zwar auch seinen eigenen materiellen Vorteil, doch er liebt seine Frau und bemüht sich auf seine Weise, sie zu halten. Seine stoische, erdverbundene Geduld, aus der er nur ein einziges eifersüchtiges Mal ausbricht, steht in wenig attraktivem Gegensatz zu André, dessen kultivierte Lebensmüdigkeit sie irgendwie anzuziehen scheint, und Nicole Garcia hat aus diesem Dreieck ein effektvolles Kino der Blicke, der Stimmungen, der Spannungen geschaffen. Nicht neu das alles, aber gut inszeniert, mit starker Optik, viel Gefühl für den Augenblick und durchaus nicht so gefühlig und seicht, wie man hätte befürchten können. Die Geschichte hat Raum und Zeit zu atmen und sie ist jederzeit spannend und bewegend. Gerade der Kontrast aus Gabrielles Emotionalität und Josés Verschlossenheit wird von Cotillard und Brendemühl großartig gestaltet, eine Liebe, die buchstäblich Jahre braucht, um endlich irgendwie zur Entfaltung zu kommen, auch wenn letztlich die Frage bleibt, ob Gabrielles Haltung so etwas wie eine Kapitulation bedeutet, was allerdings nicht zu dem Film und seiner Haltung insgesamt passen würde. Garcia ist ganz bei Gabrielle, stellt ihre Empfindungswelt kompromisslos in den Mittelpunkt des gesamten Films und gibt ihrer virtuosen Hauptdarstellerin den Entfaltungsspielraum, den sie braucht. Damit hat sie natürlich recht getan, denn Cotillard ist einmal mehr ganz toll, und es ist schon klar, dass der Film mit einer weniger überzeugenden Akteurin in ziemlich flache Gewässer hätte geraten können. Ist er aber nicht, und das ist gut so. (10.3.)