Die Unsichtbaren – wir wollen leben von Claus Räfle. BRD, 2017. Max Mauff, Alice Dwyer, Ruby O. Fee, Aaron Altaras, Viktoria Schulz, Florian Lucas, Andreas Schmidt, Robert Hunger-Bühler, Maren Eggert, Naomi Krauss, Lucas Reiber, Sergej Moya, Rick Okon, Swetlana Schönfeld, Horst Günter Marx, Laila Maria Witt, Steffie Kühnert

   Der Holocaust hat auch nach siebzig Jahren emsiger Forschung noch immer Aspekte, die unfassbar, unbegreiflich, mit meinen begrenzten Möglichkeiten nicht erklärlich sind. Einer davon ist die Frage, wieso der allergrößte Teil der jüdischen Bevölkerung wehrlos, ohne Widerstand in die Deportation und damit in den Tod ging. Man erhielt den Befehl, sich zu melden, man erschien brav in voller Anzahl, man zeigte brav seine Papiere vor, man bestieg brav die Züge, obwohl die meisten doch wohl wussten oder ahnten, dass ihnen nichts Gutes bevorstand. Wie kann man das verstehen? Anerzogener Gehorsam, Arglosigkeit, tatsächliche Wehr- und Hilflosigkeit? Dieser Film erzählt eine andere Geschichte, die Geschichte der ganz wenigen, die eben nicht gehorsam waren, die sich der Erfassung, der Internierung, der Deportation entzogen, die untertauchten in Berlin, die ihre jüdische Identität ablegten und eine andere annahmen, die sich versteckten und die tatsächlich auf diese Weise zwei, drei Jahre bis Kriegsende überstanden. Viele waren es nicht, wenn man die Zahlen in Relation setzt (der Abspann spricht von 1.500, die in Berlin überlebten), aber es gibt sie immerhin, und das finde ich extrem erleichternd. Ebenso wie die andere Geschichte, die hier erzählt wird, nämlich die Geschichte der (ebenso) wenigen Deutschen, die halfen, die Unterschlupf und Nahrung boten, wohl wissend, dass sie damit ihr eigenes Lebens aufs Spiel setzten in einer Gesellschaft, deren maßgebliche Stützpfeiler Denunziation und Verrat waren. Auch sie setzten sich jahrelang für verfolgte jüdische Mitbürger ein, die sie teilweise nicht einmal kannten, einfach weil sie Menschen waren. Leider gab es nur allzu wenige von ihnen im Nazideutschland, aber es gab sie immerhin. Zeit, auch ihnen eine filmische Hommage zu widmen. Höchste Zeit sowieso, das Thema wieder und wieder zu behandeln, denn bald wird es keine lebenden Zeitzeugen mehr geben, und bald werden damit sehr wichtige Stimmen unserer Geschichtsschreibung verstummt sein.

   1941 nimmt der Plan der Nazis, alle Juden zu ermorden, Form an, und das bleibt den Opfern nicht verborgen. Die meisten folgen einfach, einige wenige sind entschlossen, sich nicht mit ihrem Schicksal abzufinden, das sie sicher nicht in jeder Dimension erahnen, von dem sie sich aber dennoch eine ungefähre Vorstellung machen, was das Resultat angeht. Wir lernen zwei Männer und zwei Frauen kennen, die überlebt haben, die teilweise heute noch leben oder erst vor wenigen Jahren verstorben sind. Cioma, Hanni, Ruth und Eugen, damals zwischen sechzehn und zwanzig Jahre alt. Einige waren auf sich allein gestellt, andere konnten sich zunächst zusammen mit Eltern und Geschwistern verstecken, wurden dann aber auch getrennt. Mussten immer wieder das Versteck wechseln, wurden weitergeschoben, weil es zu unsicher wurde oder diejenigen, die sie versteckten, Angst bekamen, das Risiko nicht mehr tragen wollten. Manchmal lebten sie tagelang auf der Straße, hatten keinen Platz zum Schlafen, nichts zu essen, keine Bleibe. Eugen kommt mit organisiertem Widerstand in Kontakt, auch Cioma, der sich seine auf der Kunstschule erworbenen Fähigkeiten zunutze macht und Pässe fälscht, eine zeitlang für einen wohlhabenden Herrn arbeitet und gutes Geld verdient. Hanni muss sich weitgehend allein durchschlagen, färbt sich blond, kommt schließlich mit einer Kartenverkäuferin eines Kinos zusammen und überlebt. Ruth arbeitet mit ihrer Freundin Ellen eine zeitlang als Dienstmädchen für einen wohlhabenden Offizier, der genau weiß, dass beide Jüdinnen sind und der sie dennoch schützt. Sie alle leben jahrelang Tag für Tag in Angst, entdeckt, denunziert, verhaftet zu werden, und oft genug ist es kurz davor, und manchmal hilft der Zufall oder einfach das Glück. Eugen sitzt schon im Gestapo-Kerker und kommt als einziger Deutscher doch noch frei. Ruths Brüder werden von dem russischen Soldaten nicht erschossen, weil sie das bekannteste jüdische Gebet sprechen können und der Russe auch Jude ist. Cioma wird von der jüdischen Verräterin Stella nicht verraten, weil sie ihn einfach mag und noch von früher kennt. Zuvor entkommt er, mittlerweile bereits steckbrieflich in der ganzen Stadt gesucht, einem unerfahrenen Gestapomann im Bus. Sie alle müssen sich immer wieder unter Betten, hinter Türen, in Schränken verstecken, wenn an die Wohnungstür gehämmert wird, und sie alle erfahrenen wieder und wieder Hilfe und Solidarität von Kommunisten, einfachen Leuten, Nazigegnern, ohne die sie es nie geschafft hätten, bis dann schließlich zwischen Bomben und Trümmern alles kaputtgeht.

 

   Der Film wechselt zwischen gespielten Szenen und Interviews mit den vier Protagonisten, die von damals erzählen, lebhaft, ernst, bewegt und so plastisch, als sei es gerade erst passiert und nicht vor siebzig Jahren. Diese Zweigleisigkeit, die nicht in jedem Fall funktioniert, macht diesmal einen Großteil der enormen Wirkung des Films aus, sie bewirkt eine Art Beglaubigung der einzelnen Schicksale, die oft in der Tat fast unglaublich sind und ansonsten eher nach schlecht geschriebenem Kino ausgesehen hätten. Aber so entfalten die Spielszenen eine sehr intensive emotionale Kraft und Dichte, und ich denke, niemand käme je auf den Gedanken, diesen Film  in die Schublade der verharmlosenden Filme einzusortieren, denn dorthin gehört er ganz sicher nicht. Im Gegenteil, in vielen eindrucksvollen Details wird ein Berliner Schreckensszenario entworfen, eine Stadt während der Terrorherrschaft, geprägt von Hass, Fanatismus, Angst, und all dies führt immer wieder zu Verrat und Mitläufertum. Andererseits werden die Helfer nicht als strahlende Helden gezeigt, sondern als gewöhnliche Leute, die einfach tun,  wovon sie zutiefst überzeugt sind, was ihnen als normal und menschlich erscheint. Es werden keine großen Sprüche geklopft, es sind keine feierlichen Ansprachen zu hören, die Dramen sind zumeist sehr stiller Natur und werden dennoch angesichts der Personen- und Handlungsfülle überraschend komplex und tiefgründig präsentiert. Das umfangreiche Schauspielerensemble arbeitet großartig zusammen, das Drehbuch hat eine perfekt ausgewogene Gewichtung hinbekommen, und die Präsenz der vier alten Menschen ist in sich schon extrem beeindruckend. Ein wirklich toller und bewegender Film, einer der besten über dieses Thema seit sehr langer Zeit. Nun sitz ich am Ende da im Kino und frage mich, was wäre gewesen, wenn es damals noch viel mehr solch mutiger Leute gegeben hätte… (28.10.)