La ragazza del mondo (Die Welt der anderen) von Marco Danieli, Italien/Frankreich, 2016. Sara Serraiocco, Michele Rondino, Marco Leonardi, Stefania Montorsi, Lucia Mascino, Pippo Delbono, Martina Verroni
Giulia lebt mit ihren Eltern und ihrer Schwester als Zeugin Jehovas, ist bislang ein integres Mitglied der Gemeinde, zieht nachmittags mit einem anderen jungen Mädchen von Tür zu Tür, um über Gott zu reden. Sie lernt bei dieser Gelegenheit Libero kennen, der just aus dem Knast entlassen wurde und nun erstmal bei Mamas unterkommt, die wiederum den Missionierungsversuchen der Jehovas recht offen gegenübersteht. Libero reagiert hingegen sehr ablehnend und schroff, und trotzdem überredet Giulias anderntags ihren Papa, Libero eine Chance als Lehrling in dessen Holzverarbeitungsbetrieb zu geben. Sie selbst jobbt dort auch im Büro, obwohl sie eine hochbegabte Mathematikerin ist und eine Karriere an der Uni in Aussicht hätte. Ihre Lehrerin versucht seit langem, sie dazu zu überreden, doch bislang hat Giulia entschlossen abgelehnt, will sich nicht gegen den Wunsch der Familie und damit der Gemeinde stellen. Im Gespräch mit Libero gibt sie immerhin zu, dass sie der Job ankotzt. Sie und der Ex-Knacki kommen sich langsam näher, Giulia scheint sich sehr zu ihm hingezogen zu fühlen, und bald kommt es in angeblichen „Zigarettenpausen“ zu Intimitäten in Liberos Auto. Giulia bleibt dennoch zunächst reserviert, sie weiß, dass sie sehr viel riskiert: Wer sich mit einem Mensch „aus der Welt“ einlässt, kann sofort ausgeschlossen werden aus der Gemeinschaft, und als ihre jüngere Schwester sie und Libero eines Tages zusammen sieht und sie bei den Eltern verpetzt, rückt ihr sofort die Inquisition auf den Leib und sie muss im hochnotpeinlichen Verhör Rede und Antwort stehen. Wider ihres eigenen Gefühls hält sie nicht stand, entsagt dem Weltlichen und wird unter gewissen Auflagen zurück in der Gemeinschaft aufgenommen. Mama und Papa sind zufrieden, doch nicht für lange. Libero konfrontiert sie öffentlich vor der ganzen Versammlung, und schließlich brennt sie mit ihm durch, ganz ohne Plan, einfach so drauflos. Libero organisiert ein tolles Haus für sie, doch bald dämmert ihr, dass auch er ihr nicht den Halt bieten kann, den sie braucht, im Gegenteil. Er lässt sich wieder mit alten kriminellen Kontakten ein, fungiert wieder als Drogendealer und angebliche alte Schulden zu begleichen. Sie kämpft, dealt sogar selbst, um ihm zu helfen, doch irgendwann sieht sie ein, dass es keinen Sinn hat, dass er nicht rauskommen wird aus dem Milieu, und sie verlässt ihn, nimmt Kontakt zu einer ehemaligen Nanny auf, die mittlerweile auch in „der Welt“ lebt und ist entschlossen, ein neues, ein eigenes Leben zu beginnen, vielleicht an der Uni.
Klingt ein bisschen nach ARD-Degeto, und könnte ich mir auch gut vorstellen in diesem Format, doch dieser Film von Marco Danieli ist gottseidank meilenweit davon entfernt, irgendeine TV-Seifenoper zu sein. Er wirkt so echt, so überzeugt, so unmittelbar und gefühlvoll, dass er auf mich jedenfalls nie den Eindruck eines kalkulierten Hochglanzprodukts machte. Obwohl er thematisch ja perfekt in den gängigen Kanon hineinpasste.
Viel eher als eine Liebesgeschichte oder eine Sektengeschichte ist dies für mich allerdings eine Emanzipationsgeschichte und zwar durchaus eine mit mehreren Böden und Ebenen. Die anfänglich klare Opposition von rigider Gehirnwäsche à la Jehova einerseits und dem freien, selbstbestimmten Leben Liberos andererseits zeigt schnell erste Risse, eine allzu simple, schematische Gegenüberstellung geht nicht auf. Natürlich ist die Indoktrination durch die Gemeinde, die Eltern infam und auf mieseste Art manipulativ, bedrohlich, einschüchternd, doch hat Libero letztlich auch keinen sehr überzeugenden Lebensentwurf dagegenzusetzen, und auch er operiert mit Beeinflussung und Manipulation, wenn auch sicherlich nicht so bewusst und systematisch. Giulia ist lange Zeit das klassische Opfer, zerrissen zwischen Elternhaus und dem Versprechen der Freiheit, zwischen der vermeintlichen Sicherheit der Gemeinschaft und ihrer strengen Regeln und der vermeintlichen großen Freiheit draußen in der Welt. Mit dieser Freiheit aber ist es ebenso wenig weit her wie mit der Sicherheit, beides ist trügerisch, hat jeweils seinen Preis. Für Giulia ist es immer derselbe: Sie gibt ihre Entscheidungsfreiheit auf, ihre Selbstbestimmtheit, begibt sich stattdessen in eine Abhängigkeit, die eine, in die sie praktisch hineingeboren wurde, durch und durch erzwungen, die andere zunächst freiwillig und gern, doch später nicht mehr so. Obwohl natürlich völlig klar ist, das das Drehbuch sich grundsätzlich immer auf die Seite der sogenannten Freiheit stellt und gegen die Repression der Jehovas, die bei Giulia wie bei den meisten anderen Gemeindegliedern wohl davon profitieren, dass ihre Autorität niemals hinterfragt wird, und es ist charakteristisch für die Giulia der ersten neunzig Minuten, dass sie einen Katalysator benötigt, auf aufzubegehren, um zuzulassen, dass es für sie noch andere Dinge geben könnte, als Selbstdisziplin, Enthaltsamkeit, Gehorsam und Missionarentum. Sie findet in Libero allerdings nicht den zuverlässigen, starken Halt, den sie anfangs noch benötigt, sondern er ist jemand, der selbst jede enge Hilfe gebraucht, um endlich ein Leben außerhalb der Kriminellenkreise auf die Reihe zu kriegen. Giulias Emanzipation vollzieht sich in dem Moment, da sie sich auch von Liberos distanzieren kann und wirklich ihren ganz eigenen Weg geht, auch wenn sie sich zunächst wieder an jemanden wendet, nämlich die alte Freundin von früher, der der Ausstieg aus der Sekte bereits gelungen ist.
Ein sehr gefühlvoll inszenierter und ganz toll gespielter Film, der mit seinen dramatischen Akzenten eher verhalten umgeht und insgesamt sehr authentisch wirkt. Die Komplexität der Geschichte wird von der Regie und den Schauspielern perfekt transportiert – starkes Gegenwartskino aus Italien, und wie viele andere Filme von dort leider nicht bei uns zu sehen, außer in solchen Filmreihen wie dieser und dann nur mit einer einzigen Vorstellung. Aber gut, immer noch besser als gar keine… (28.9.)