Un sac de billes (Ein Sack voller Murmeln) von Christian Duguay. Frankreich/Kanada, 2017. Dorian Le Clech, Batyste Fleurial Palmieri, Patrick Bruel, Elsa Zylberstein, César Domboy, Ilian Bergala, Bernard Campan, Coline Leclère, Émil Berling, Kev Adams, Christian Clavier

   Eine jüdische Familie im besetzten Paris im Krieg. Vater Roman Joffo führt einen Frisiersalon, die Mutter Anna ist eigentlich eine Violinistin, die beiden ältesten Söhne Henri und Albert arbeiten schon mit, die zwei jüngeren Söhne Maurice und Jo gehen noch zur Schule. Jo wird diese Geschichte erzählen, er ist elf, zwölf, als sie beginnt. Beide Eltern sind osteuropäische Juden, und Roman erzählt seinen Jungs einmal, was das bedeutet, erzählt von Pogromen in Russland und von seiner eigenen Flucht als Junge. Und so ergeht es ihnen nun auch wieder. Die Juden in Paris werden nicht nur schikaniert und drangsaliert, sie werden mit einem gelben Stern gekennzeichnet und müssen von jetzt an ständig damit rechnen, abgeholt und nach Osten transportiert zu werden. Roman und Anna haben gelernt, auf solche Zeichen sofort zu reagieren und sie wissen, dass sie als sechsköpfige Familie kaum Chancen haben, in den vermeintlich sicheren Süden, die vermeintlich freie Zone durchzukommen. Anna hat Verwandte in Nizza, und das ist ihr Ziel. Roman schickt Maurice und Jo gemeinsam los, sich mithilfe eines Fluchthelfers rüber in die freie Zone durchzuschlagen, und tatsächlich gelingt es ihnen, und die Familie findet in Nizza wieder zusammen. Dort sitzen die Italiener, und alles ist erstmal recht entspannt. Dann wird Mussolini abserviert, die Italiener ziehen ab, und Roman versteht sofort, was das bedeutet, denn jetzt kommen die Deutschen und das relativ entspannte Miteinander ist vorüber. Wieder zerstreut sich die Familie, flieht, Maurice und Jo geraten in Gefangenschaft, aus der sie nur mit knappster Not entkommen und finden sich schließlich in einem kleinen Bergdorf in der Haute-Savoie wieder. Dort sind die Deutschen zwar präsent, doch den wahren Terror üben französische Milizionäre aus, die vor allem bei der Judenverfolgung vorbildlichen Eifer an den Tag legen. Maurice und Jo finden jeder einen Job, Jo verliebt sich in ein großes blondes Mädchen namens Françoise, deren Vater leider einer der Chefkollaborateure und deren Bruder ausgerechnet der brutalste unter den Milizionären ist. Wieder geraten die Brüder in arge Bedrängnis, doch dann kommt das Kriegsende mit der Befreiung, sogleich wird im Dorf heftig Vergeltung geübt, und weil er die Grausamkeiten nicht mehr ertragen kann, rettet Jo den bewussten Vater seiner Françoise, indem er behauptet, er habe monatelang einen Juden unter seinem, Dach versteckt, nämlich ihn. Womit er sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder offen als Jude bekennen darf. Die beiden kehren zurück nach Paris zur Familie, und tatsächlich sind alle noch da – bis auf Roman. Der hatte kein Glück und endete vermutlich in Auschwitz, während alle anderen von der Deportation verschont wurden, weil die Züge aus Drancy nicht mehr fuhren.

   Joseph Joffo hat diese, seine eigene Geschichte Anfang der Siebziger aufgeschrieben, und kurz darauf hat Jacques Doillon bereits eine Verfilmung angefertigt, die ich wirklich herzlich gern mal sehen würde, einfach für den Vergleich. Denn was Christian Duguay uns hier anbietet, ist sicherlich ein ehrenwerter und zum Teil auch sehr bewegender Film, aber eben auch ein Film, der sich an ein möglichst breites Konsenspublikum richtet, gern auch an ein jüngeres, und der klar den heutigen Gesetzmäßigkeiten folgt, nach denen solch ein Film möglichst effektvoll gestaltet werden muss. Wie gesagt, ich meine das in diesem Fall durchaus nicht völlig negativ, schränke aber schon ein, dass mir einige Szenen zu gefühlig und verkitscht erschienen. Ich dachte dabei gelegentlich an die verkorkste Neuversion vom „Krieg der Knöpfe“, nur dass die natürlich in jeder Hinsicht noch viel missratener ist. „Ein Sack voller Murmeln“ ist mir optisch und musikalisch zu glatt und hübsch (gerade die notorisch süßliche Musik zerrt zwischendurch arg an den Nerven), doch durch die Nähe zu den Personen und die hervorragenden Darsteller wird dieses Manko größtenteils wettgemacht. Es gibt sehr spannende und intensive Momente und es gibt auch ein paar Porträts, wenn auch sicherlich ein wenig vereinfachte, von französischen Mitbürgern, die sich nicht so gut mit dem Mythos des kollektiven, heroischen Widerstands gegen die Nazis vertragen. Antisemitismus, Denunziation und Opportunismus begegnen der Familie überall, ob im besetzten Paris oder im sogenannten „freien“ Nizza, ob in der Großstadt oder auf dem Land. Es scheint fast so, als hätten erst die Nazis mit ihrer radikalen Rassenpolitik den französischen Antisemitismus so richtig in Fahrt gebracht, oder sollte man sagen, salonfähig gemacht. Jo hat in der Schule nie Probleme, alles ist gut, bis er mit dem aufgenähten gelben Stern herumlaufen muss, und plötzlich alle realisieren, dass er ja Jude ist, was zuvor nie Thema war. Die Panik vor dem brutalen, allgegenwärtigen Naziterror führt auch unter den Franzosen statt zu allgemeiner Solidarität eher zu Misstrauen, Angst, Hass, und mehr als einmal wird dem kleinen Jo unterwegs eingeschärft, er soll niemandem vertrauen, und wie sich leider zeigt, ist dieser Rat völlig berechtigt und lebensrettend. Aus manchen aussichtslosen Situationen werden er und sein älterer Bruder Maurice wie durch ein Wunder befreit, und wenn das tatsächlich so war, muss man wirklich von einem Wunder reden.

 

   Ein Wunder würde ich diesen Film nicht nennen, eher schon den weitgehend gelungenen Versuch, die Geschichte einer jüdischen Familie auf der Flucht für so viele Altersgruppen wie möglich zu erzählen. Und ich würde wirklich gern mal sehen, was der Doillon aus dem Stoff gemacht hat… (23.8.)