Elle von Paul Verhoeven. Frankreich, 2016. Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Jonas Bloquet, Anne Consigny, Charles Berling, Christian Berkel, Virginie Efira, Judith Magre, Alice Isaaz, Vimala Pons, Raphaël Lenglet
Viel interessanter als sein neuer Film ist für mich, was aktuell im sogenannten gehobenen Filmjournalismus mit Paul Verhoeven abgeht – der Mann ist plötzlich ein Meisterregisseur, seien Filme sämtlich Kult, vor allem jene, die vor zwanzig Jahren nach Strich und Faden zerlegt und für spekulativen, sensationslüsternen Schrott erklärt wurden. Also „Showgirls“ oder „Basic Instinct“ oder „Total Recall“ oder „Robocop“ oder weiß der Geier was noch. Auf einmal sind dies geniale Satiren, veritable Frauenfilme zum Teil sogar und vor allem Zeugnisse eines freien, großzügigen Künstlers, der nimmer müde wird, Risiken auf sich zu nehmen und die schnöde Bourgeoisie zu provozieren. Dieselben Medien, die damals die exzessiven, oberflächlichen, teilweise gar von reaktionärer Gesinnung zeugenden Gewaltdarstellungen rügten, kommen heute zu einem vollkommen anderen Urteil und behaupten, dass Verhoeven damit schon immer einen tieferen, subversiven Zweck verfolgt hat. Ist schon witzig, wie sich die Ansichten im Lauf der Zeit ändern können…
Mir jedenfalls ist aufgefallen, dass ich noch nie einen Verhoeven-Film in voller Länge gesehen habe, und nach „Elle“ verstehe ich auch, wieso. Einhundertdreißig lange Minuten (gerade in der zweiten Hälfte fühlen sie sich besonders lang an) sind keine Vergnügen angesichts einer sperrigen Erzählung und einer Hauptperson, zu der ich zumindest kaum einen Zugang finden konnte. Niemand wird bezweifeln, dass Isabelle Huppert eine der großen Filmschauspielerinnen ihrer Generation ist, mir hat sie seit „Die Spitzenklöpplerin“ vor vierzig Jahren schon immer sehr am Herzen gelegen, und wie sie diesen ganzen langen Film praktisch allein trägt, ist schon mehr als respektabel, doch hat sie sich irgendwann auf diese unzugänglichen, verschlossenen, spröden Frauenfiguren spezialisiert, die ich halt nicht immer verstehe – wahrscheinlich weil ich nur ein dummer Mann bin. Hier zeigt sie nicht nur ihre klassisch eisige Mimik (selbst ihr gelegentliches Lächeln wirkt gefroren), sondern sie darf sich auch in heftiger physischer Aktion ausleben, allerdings in wenig erfreulichem Kontext.
Es geht um Gewalt, vorwiegend sexuelle Gewalt gegen Frauen, es geht um Traumata und ihre Bewältigung, es geht und Sex, Lüge und Macht, und das hört sich schon nach saftiger bürgerlicher Kolportage an, und das ist es auch im Großen und Ganzen, meinetwegen halt mit einem satirischen Twist. So wollen es jedenfalls die Verhoeven-Fans gesehen haben. Isabelle Huppert ist Michèle, eine durchsetzungsfähige Geschäftsfrau, Mutter eines Sohnes, vom Ex-Mann längst getrennt lebend, die mehrmals in ihrem Haus überfallen und brutal vergewaltigt wird. Sie reagiert, indem sie sich ärztlich untersuchen lässt, sich ein Pfeffergasspray und eine Wurfaxt zulegt und im Freundeskreis fast beiläufig davon erzählt, doch lehnt sie nachdrücklich ab, sich an die Polizei zu wenden oder sonst an ihrer Lebensführung irgendetwas zu ändern. Und das gibt’s auch noch genügend Themen. Sie betrügt ihre beste Freundin und Kollegin Anna mit deren Ehemann. Ihr Ex Richard, der sie eigentlich immer noch anbaggert, sucht sich eine junge Frau, und ihr Sohn Vincent, der beruflich nix auf die Reihe kriegt, erwartet mit seiner extrem zickigen Freundin ein Kind, das, als es geboren wird, aufgrund seiner dunklen Hautfarbe kaum als sein leibliches Kind in Frage kommt. Sie lernt ihrer Nachbarn von gegenüber näher kennen, denn netten Patrick und seine streng katholische und offenbar ziemlich zugeknöpfte Gattin Rebecca. Ihre Mutter angelt sich einen jungen Lover und verkündet ihre bevorstehende Trauung. Dann stirbt sie unvermittelt, genau wie der Vater, der sich nach dem soundsovielten gescheiterten Begnadigungsversuch im Knast erhängt, nachdem Michèle widerwillig ihren Besuch angekündigt hat. Patrick erweist sich schließlich als der Vergewaltiger, und für kurze Zeit führen Michèle und er eine ziemlich merkwürdige und gewalttätige Beziehung, bis Patrick schließlich von Vincent erschlagen wird, weil dieser die Situation missversteht. Michèle gibt Anne gegenüber den Betrug zu, doch die beiden bleiben schließlich Freundinnen. Vincent versöhnt sich mit seiner Schnepfe. Und Rebecca dankt Michèle dafür, dass sie ihrem Mann wenigstens für kurze Zeit seien sexuellen Wünsche erfüllt hat.
Es geht also wahrlich wild zu in dieser Gruppe arrivierter Kulturschaffender oder Börsenmakler. Die nachvollziehbarste Geste Verhoevens ist noch die, Michèle auf keinen Fall zum Opfer zu machen und auf die Leidensrolle zu reduzieren. So weit, so ehrenwert. Michèle hat gelernt, stark zu sein, sich durchzusetzen, zur Not auch eiskalt und unter Inkaufnahme sämtlicher Kollateralschäden. Sie bewaffnet sich, sie wehrt sich, sie will auf keinen Fall bemitleidet werden, sie will stets und überall das Heft fest in Händen halten. Dies hat sie irgendwann in den letzten vierzig Jahren beschlossen und durchgesetzt – so lange ist es her, seit ihr Vater in ihrer damaligen Nachbarschaft in Nantes ein Massaker anrichtete und fast dreißig Menschen niedermetzelte, Frauen und Kinder inklusive. Seine zehnjährige Tochter Michelle geriet, obgleich selbst natürlich vollkommen unbeteiligt, gleichwohl ins Fadenkreuz der Öffentlichkeit, und noch heute wird ihr im Café ein volles Tablett über den Schoß gekippt, ist die ungeheuerliche Untat des Vaters nicht vergessen, wird ihr Name noch immer mit dem Monster assoziiert. Im Gegensatz zu ihrer kapriziösen Mutter, mit der sie in ständigen Zankereien lebt, hat sie beschlossen, den Vater aus ihrem Leben zu streichen, und damit ist sie gut gefahren. Sie geht ihren Weg und kümmert sich nicht darum, dass sie sich nicht nur Freunde macht. Eine starke, kantige Frauenfigur also, und gerade durch Hupperts charakteristischen Spielstil eine überaus überzeugend kantige Frauenfigur, und so hätte alles gut sein können. Verhoeven aber möchte mehr, möchte weiter gehen, möchte das, was er vielleicht Provokation nennt, gern ein kleines bisschen auf die Spitze treiben. Oder auch das, was er vielleicht Satire nennt. Wenn ich jedoch versuchen sollte, die genaue Zielrichtung seiner Provokation und Satire zu benennen, müsste ich lügen, das ist mir einfach nicht ganz klar. Vielleicht geht’s gegen bürgerliche Moral, oder besser Doppelmoral, vielleicht sollen unsere Erwartungen, Denkmuster, Sehgewohnheiten unter Beschuss genommen werden. Vielleicht soll eine bissige Lanze für starke Frauen gebrochen werden, was auch immer genau darunter zu verstehen ist. Und so ist dieser Film ständig irgendwie aufgeladen, ständig bissig, drastisch, tollkühn, doch bin ich nicht sicher, ob nicht nur heiße Luft dahinter steckt. Eine Satire muss für mich trotz allem dennoch plausibel sein, eine Provokation trifft mich nur, wenn ich irgendein Verhältnis zu den handelnden Personen habe. Und da Michèle den Film völlig dominiert, geht’s in erster Linie um sie, und wie schon gesagt, ist es mir nicht recht gelungen, eine Beziehung zu ihr herzustellen. Zu unverständlich ihre Reaktion, zu unverständlich ihr Umgang mit Patrick. Zu oft hab ich hier den Eindruck, Provokation und Satire verfolgen eher einem Selbstzweck, einen konkreten thematischen Fokus kann ich nicht ausmachen. Weswegen mich „Elle“ insgesamt auch eher unberührt gelassen hat, obwohl er sich ja wirklich alle Mühe gibt, dass genau das nicht passiert. Eine Häufung von Fäkalsprüchen oder anderen Grobheiten oder auch ein bisschen ruppige Gewalt reichen mir das nicht. Und es wäre auch traurig, wenn das heutzutage schon reichen würde… (22.2.)