Happy End von  Michael Haneke. Frankreich/Österreich/BRD, 2017. Isabelle Huppert, Jean-Louis Trintignant, Fantine Harduin, Mathieu Kassovitz, Franz Rogowski, Laura Verlinden, Toby Jones

   Der Titel ist natürlich ein kleiner Scherz des Regisseurs - der einzige übrigens im ganzen Film. Natürlich gibt es weit und breit kein Happy End, denn dies ist ein Film von Michael Haneke. Es gibt genau genommen nicht mal ein richtiges Ende, denn nachdem am Schluss Großvater Laurent mitsamt Rollstuhl aus der Nordsee gezogen worden ist, wird das Leben der Familie einfach weitergehen, so bisher vermutlich, und wenig bis nichts wird sich verändern, und von einem Ende in weitestem Sinne kann keine Rede sein. Von einem Anfang übrigens auch nicht – „Happy End“ wirkt eher so, als habe Haneke einfach eine gewisse Zeit aus dem Leben der Familie Laurent herausgeschnitten in dem klaren Bewusstsein, dass es eine ziemlich gewichtige und komplexe Vorgeschichte geben muss und dass es wie schon gesagt nachher, wie auch immer, weitergehen wird.

   Die Laurents haben ein Bauunternehmen in Calais. Der alte Georges hat sich weitgehend zurückgezogen aus dem Geschäft, als seine Frau dement und pflegebedürftig wurde. Er hat den Stab an seine Tochter Anne, die wiederum beabsichtigt, ihren Sohn Pierre als zukünftigen Chef in die Verantwortung zu nehmen. Georges hat auch einen Sohn, Thomas, der ist Arzt, in zweiter Ehe verheiratet mit der jüngeren Anaïs, mit der er einen kleinen Sohn hat. Er hat aus erster Ehe eine dreizehnjährige Tochter Eve, die bei ihrer Mutter im  Süden lebt. So, und jetzt die Konflikte von oben nach unten: Georges ist des Lebens müde und unternimmt zahlreiche Versuche, es zu beenden, indem beispielsweise einen Trupp Afrikaner auf der Straße anquatscht oder später seinen Friseur bei dem Versuch, an eine Waffe zu kommen, oder indem er eben zuletzt in die Nordsee rollt, aber gerade noch von Tochter und Sohn „gerettet“ werden kann. Bei seiner Frau war Georges übrigens erfolgreicher, ihr hat er einfach ein Kissen aufs Gesicht gedrückt (wir denken sofort an Hanekes „Liebe“, in dem Trintignant genau dies auch tat) und ist nach wie vor überzeugt, das richtige getan zu haben. Anne ist im Dauerstress, weil es der Firma nicht gut geht und sie der Sache letztlich auch nicht so ganz gewachsen ist. Ein Unfall mit Todesfolge auf einer Baustelle erhöht den Druck, und schließlich entscheidet sie sich mithilfe ihres Verlobten, eines britischen Wirtschaftsheinis, an einen Investor zu verkaufen oder ihn zumindest ins Boot zu holen. Ihre Bemühungen, Sohnemann Pierre als Nachfolger aufzubauen, scheitern auf ganzer Linie. Thomas betrügt seine Anaïs mit einer Gambenspielerin, lebt im Chat seine drastischen erotischen Phantasien aus und tut sich obendrein sehr schwer, als Eve erst vorübergehend, dann für immer bei ihnen einzieht. Pierre versucht, sich den dauernden Anforderungen seiner Mutter zu entziehen, wird immer sperriger und wehriger, kriegt auch noch eins auf die Schnauze als er versucht, mit der Familie des Unfallopfers einen Deal auszuhandeln, und provoziert auf der Hochzeit seiner Mama mit dem freundlichen Englishman einen peinlichen Skandal, als er einen Trupp afrikanischer Flüchtlinge mitbringt und die Haute Volée der Stadt mit einer Wirklichkeit konfrontiert, von der die natürlich am liebsten nichts wissen würden. Auch sein Versuch, die Verdienste des marokkanischen Dienstmädchens der Laurents einmal in aller Öffentlichkeit zu würdigen, stößt nur auf befremdetes Schweigen. Und Eve schließlich ist beiweitem das rätselhafteste, undurchsichtigste Familienmitglied. Traumatisiert vom frühen Tod ihres großen Bruders und von der Tablettensucht ihrer depressiven Mama scheint sie die Nähe zu sich und anderen völlig verloren zu haben. Sie filmt den Tagesablauf ihrer Mutter per Handy und begleitet ihre Observation durch trocken-zynische Kommentare. Sie probiert die Wirkung von Mamas Antidepressiva zunächst an einer Mitschülerin, dann an ihrem Hamster aus, im zweiten Fall mit fatalen Folgen. Sie verliert schließlich auch noch die Mutter durch Suizid und muss sich in der neuen Familie ihres Vaters im fernen Calais zurechtfinden, was ihr sehr schwer fällt, zumal Thomas sich sehr unbeholfen anstellt und Anaïs offen auf Distanz geht. Sie kriegt mit, wie Thomas seine Frau hintergeht und hat sofort Angst, erneut abgeschoben zu werden. Am Schluss fährt sie ihren Opa im Rollstuhl an den Rand des Meeres und sieht dann regungslos und ohne eine Miene zu verziehen zu, wie er ins Wasser rollt.

   Unter all den Figuren hier, die zumeist mehr oder weniger herkömmliche Stereotypen bedienen, ist Eve ohne Frage die interessanteste, für mich zumindest die einzige hier, die ich wirklich zu verstehen versucht habe. Faszinierend und abgründig, tieftraurig und grausam, ein Monstrum in gewisser Hinsicht und vor allem natürlich auch nur das Produkt ihrer Familie und ihrer Erfahrungen. Alle anderen sind Abziehbilder, Karikaturen, die Hanekes offensichtlichem Ziel dienen, die inneren Krankheiten und Degenerationen der Bourgeoisie auszustellen. Okay, kapieren wir schnell, und auch, wie krank und fertig die Welt im Ganzen ist, oder besser die Menschen, die sie ja geprägt und gemacht haben. Das haben uns schon viele andere vorgeführt, manche, wie beispielsweise Buñuel, auch viel witziger und origineller. Haneke bleibt seinem gewohnten Duktus treu, gibt sich streng, distanziert, zum Teil mit brutaler Klarheit, eher kühl beobachtend denn analysierend oder gar psychologisierend. Beeindruckend finde ich immer bei ihm, dass er uns nicht mit banalen Herleitungen oder Erklärungsversuchen belästigt und dass er bei aller schmerzhaften Gründlichkeit noch sehr viel Raum hinter den Oberflächen lässt, den wir selbst dann mithilfe unserer Phantasie mit entsprechenden Abgründen füllen können. Das kann er wie nur wenige andere, und wenn man von seinen schwer erträglichen Machwerken „Funny Games“ oder „Bennys Video“ absieht, ist er dieser besonderen Qualität bis heute treu geblieben.

 

   Dennoch kann ich persönlich nicht umhin festzustellen, dass mir „Happy End“ nur wenig Neues gezeigt hat. Die Diagnose steht eigentlich von vornherein fest, und alles, was ich sehe, dient nur dazu, dieser Diagnose zu entsprechen. Der Film wirkt dadurch sehr hermetisch und vorkonstruiert, es geschieht hier nichts, was irgendwie überrascht, aus der vorgeschriebenen Bahn ausbricht. Die Bourgeoisie ist total kaputt, alle sind egozentrisch, verlogen, von Hass und Misstrauen erfüllt, gehen heimlich perverse Sehnsüchte und sind dabei vermutlich einfach nur elend einsam. Und dazu dann Hanekes Insektenforscherblick, und fertig ist ein Film, der zwar eindrucksvoll gestaltet und gespielt ist, den ich aber bei weitem nicht zu Hanekes stärksten zählen würde, dazu hat er mich zu wenig berührt. (18.10.)