I am not your Negro von Raoul Peck. Frankreich/Belgien/Schweiz/USA, 2016.

   Viel mehr als ein Film. Ein Pamphlet, eine Polemik, eine Wutrede, ein definitives Statement, ein Appell, eine glasklare, durchdringende politische und gesellschaftliche Analyse – alles auf einmal, alles durcheinander, ein Film, der sicherlich polarisiert, der mitreißt, beeindruckt, bewegt oder aber abstößt und verärgert. Genau solche Filme liebe ich, Filme, die mir was anbieten, mit dem ich mich auseinandersetzen kann, keine braven, lahmen, vermeintlich neutralen, wertfreien Machwerke, sondern leidenschaftliches, rücksichtslos persönliches und gern auch einseitiges Argumentieren. Ich bin erwachsen, kann damit umgehen, und die da wie so häufig jammern, sie fühlten sich bevormundet, sollen meinetwegen zum Teufel gehen.

   Ein Film über James Baldwin, ein Film mit James Baldwin, ein Film von James Baldwin, all das ist abwechselnd oder gleichzeitig und unter anderem auch richtig, aber Raoul Peck hatte noch mehr im Sinn und er hat auch viel mehr erreicht. Ein Film über Rassismus, eine Geschichtslektion, eine Politiklesung, ein Film über Amerika an sich, eine Theorie darüber, was seit jeher das Fundament, den Kern der amerikanischen Gesellschaft ausmacht und genau deshalb früher oder später zu ihrem Untergang führen könnte, wenn sich nicht doch noch etwas ändert. Die Verhältnisse werden mit grimmiger Kompromisslosigkeit betrachtet, doch es scheint noch einen Rest Hoffnung zu geben, auch wenn Baldwin selbst sich wenig zuversichtlich äußert.

   Raoul Peck hat einen zentralen Text Baldwins genommen und ihn seinem Film zugrunde gelegt, er lässt ihn vorlesen (im Original von Samuel L. Jackson, die deutsche Fassung hat Samy Deluxe besorgt und er hat das ganz hervorragend gemacht), zerfurcht die Lesung jedoch durch einen faszinierend dichten Teppich aus montiertem Material, Bilder von Baldwins in verschiedenen Talkshows oder Interviews, Dokumentaraufnahmen unterschiedlichster Herkunft, aus unterschiedlichsten Epochen, vor allem auch Filmausschnitten, die immer wieder an zentrale Positionen gesetzt werden dann nämlich, wenn Peck ein Ausrufungszeichen setzen wollte – oder vielleicht doch Baldwin? Ein ganz großer Reiz des Films liegt in der fortwährend in der Schwebe befindlichen Frage, wer jetzt gerade zu und spricht, oder ob der Film insgesamt eine Art Koproduktion ist – mit der entscheidenden Einschränkung natürlich, dass Baldwin bereits seit dreißig Jahren tot ist und somit nur auf eine eher indirekte Weise am Drehbuch mitgewirkt hat. Baldwin liefert die Worte, Peck die Montage, und diese Mischung funktioniert großartig, extrem emotional, eine Synthese aus Leidenschaft, Intelligenz, Zorn und Analyse. Weder eine chronologische Biographie, noch ein chronologischer Abriss jüngerer US-Geschichte, auch keine ordentliche soziologische Abhandlung zum Rassismus in den USA und auch keine objektive Kulturanalyse zum Thema Rassismus und Hollywood. Peck tut nichts, um Baldwins Text zu relativieren, er schwächt die Wucht seiner Worte in keinem Moment ab, er untermauert sie nicht mal im eigentlichen Sinne durch seine Bilder, er schafft zwei einander ergänzende Systeme, und das habe ich in dieser Form wohl noch nie gesehen, erst recht nicht in einem Dokumentarfilm. Natürlich pfeift Peck auf Objektivität und er lässt auch nicht für eine Sekunde den Eindruck entstehen, er habe keine Meinung zu dem, was zeigt und hört. In dem Porträt des Autors und Bürgerrechtlers James Baldwin entsteht das Porträt einer Gesellschaft, die scheinbar unentwirrbar in sich selbst verstrickt ist, in ihrer Angst, ihrer Schuld, ihrer Bigotterie, ihrer Gewalttätigkeit. Von alldem legen die Bilder wieder und wieder Zeugnis ab, prügelnde Polizisten, gelynchte Schwarze, hasserfüllte, Nazisymbole schwenkende, drohende, grölende, spuckende Weiße, wütende, randalierende Schwarze. Ein Land, dessen gründungsbildendes System der Rassismus war und das sich von diesem System nicht trennen kann – oder will. Baldwin hat auch Angst und er fragt: Braucht ihr uns Nigger heute überhaupt noch? Müssen wir noch für euch die Baumwolle pflücken? Und wenn ihr uns nicht mehr braucht, werdet ihr uns dann einfach töten? Dem entgegen setzt er eine sehr dunkle Drohung: All die Jahre habt ihr uns niemals gesehen, wir aber haben euch immerzu gesehen. Und man kann nur wirksam bekämpfen, was man sieht. Also seht euch vor. Dieser Dualismus aus Aggression, Furcht, beißender Ironie einerseits und bitterer Verzweiflung andererseits durchzieht die meisten Äußerungen Baldwins, der mit seiner starken, klaren, brillanten Sprache immer wieder zum Kern Amerikas vordringt. Und der sich immer wieder abarbeitet an jenem reinen, glatten, weißen Amerika, das er aus tiefster Seele hasst und verabscheut, weil es für all das steht, was ihn und alle anderen Schwarzen all die Jahre unterdrückt, ausgegrenzt, verhöhnt hat. Doris Day und Gary Cooper sind exemplarisch für dieses Hollywood, John Wayne sowieso und all die vielen netten weißen Familienfilme, deren Botschaft vor allem darin besteht, was sie auf keinen Fall in ihre weiße saubere Welt lassen werden, nämlich Nigger. Und wenn sie es doch tun, dann in Form augenrollender, blöder, einfältiger Niggerpapas oder dicker, herzensguter, mütterlicher und nicht minder einfältiger Niggermamas. Ich fürchte, dass ich nach „I am not your Negro“ diese alten Hollywoodfilme nicht mehr mit den gleichen Augen sehen werde…

   Peck hat seinen Film in Kapitel unterteilt, springt locker zwischen Politik, Interviews, Kultur hin und her. Die drei großen Namen müssen genannt werden, essentiell nicht nur für die jüngere US-Geschichte, vor allem natürlich die Bürgerrechtsbewegung und eben auch für Baldwin, der ein Teil dieser Bewegung war. Medgar Evers, Malcolm X, Martin Luther King. Sie alle sterben an Amerika, sie alle werden erschossen von rassistischen Fanatikern, gedeckt von einem System, das den Tod dieser Männer jeweils nur oberflächlich bedauert hat. Evers stirbt als erster 1963, Malcolm X zwei Jähre darauf, King weitere drei Jahre später. Keiner von ihnen vollendet sein vierzigstes Lebensjahr, ihr gewaltsamer Tod traumatisiert nicht nur Baldwin, sondern alle Gleichgesinnten. Ihr Tod ist symptomatisch und scheint die Möglichkeit einer friedlichen Umwälzung der US-Gesellschaft grundsätzlich zu negieren. Viele versuchen auf vielen verschiedenen Ebenen Einfluss zu nehmen, die Jet-Set-Stars ebenso wie die Straßenkids, und dann gibt es tatsächlich doch einen schwarzen Präsidenten, doch was hat sich seit den 60ern wirklich verändert?

 

   Ein unerhört kraftvoller, faszinierender Film, der mich angreift und herausfordert, der diskutiert werden will, der etwas auslösen will. Ich könnte mich jetzt noch in endlosen Details verlieren, aber ich lasse es. Ganz großes, hochgradig politisches, streitbares, hochgradig relevantes, engagiertes, persönliches Kino. Was kann ich mehr erwarten? (10.4.)