Ich, Judas von Ben Becker und Serdar Dogan. BRD, 2017. Ben Becker
Eine Solodarbietung von Ben Becker, aufgezeichnet im Berliner Dom. Zunächst ein kurzer Auszug aus einem Roman von Amos Oz, der sich weniger einprägt und vor allem rasch beiseite gedrängt wird von der Hauptsache, Walter Jens‘ Verteidigungsrede des Judas Iskariot. Ein außerordentlicher, faszinierender Text, auch für Leute wie mich, die in Bibelkunde praktisch ahnungslos sind, natürlich von der Figur des Judas gehört haben und mit ihm und seiner Rolle etwas verbinden und sich des Weiteren noch nie so recht Gedanken darüber gemacht haben, was alles daran hängt, wie tief und weit die Folgen der Darstellung des Judas in die Geschichte reichen.
Stolz und Trotz, Wut und Verzweiflung kennzeichnen dieses Judas, der da vor die Weltgeschichte hintritt, um seinen angeblichen Verrat an Jesus zu erklären, zu rechtfertigen. Seine Argumentation ist zunächst noch recht selbstsicher, fängt an, indem er den Vorwurf des Verrats an sich in Zweifel zieht: Jedermann wusste, wo Jesus zu finden ist, also kann von Verrat in dem Sinne nicht die Rede sein. Als nächstes erklärt er, dass es eine Absprache gab, dass Jesus wusste, dass ihn einer der zwölf Jünger verraten würde, dass er mehr noch ihn, Judas, auswählte, und nicht nur das, ihm sogar auftrug, den verrat zu begehen. Es war die ihm zugedachte Rolle, Jesus und er gingen dadurch ein Bündnis ein, banden ihr Schicksal aneinander. Dieser Verrat war notwendig, um Jesus als Erlöser zurück in die Welt zu bringen, hätte Judas den Verrat nicht begangen, wäre die gesamte Geschichte ganz anders verlaufen. An diesem Punkt tritt sich ein atemberaubendes und im Detail auch sehr provozierendes Gedankenspiel los, das Judas mit zunehmender Vehemenz, aber auch in zunehmender seelischere Bedrängnis vorträgt. Zum einen geht es um das Schicksal der Juden allgemein, das durch seine Tat wesentlich geprägt wurde und sie ein für allemal in die Situation eines geächteten, verhassten, verfolgten Volkes drängte. Mit dieser Schuld muss Judas leben, sie wiegt ungleich schwerer als der Vorwurf des Verrats und der daran anschließende Selbstmord. Womit er ebenfalls leben muss, ist die erst nach Jahrhunderten sichere Erkenntnis, dass sich durch seinen Verrat der Lauf der Geschichte entscheidend, aber eben nicht zum Guten veränderte. Alles jetzt nach Walter Jens, wohlgemerkt. All die Glaubenskriege, all der Religionsterror, all die Spaltungen und Polarisierungen, alles geht auf Jesus zurück, und den hat er, Judas durch seinen Verrat erst ermöglicht. Ohne Judas gäbe es das Symbol des Kreuzes nicht, gäbe es überhaupt keine Kirchen, weder eine katholische noch eine protestantische. Judas wird quasi zu einer Schlüsselfigur der gesamten abendländischen Kultur und Geschichte, und das ist einerseits eine große, gewichtige Aufgabe, andererseits aber auch ein schweres Kreuz. Je tiefer er sich in seine Verteidigung hineinarbeitet, desto stärker wird das Motiv der Bürde, der Schuld, der Verzweiflung. Judas fragt sich, ob er allein tatsächlich verantwortlich ist für soviel Leid und Tod, landet immer wieder bei der Gewissheit, dass all dies Jesus‘ eigener Wille, seine Bestimmung war, der er nur folgen konnte. Er hätte sich weigern, hätte nein sagen können, doch führt er auch aus, wieso das für ihn keine Option war. Indem er seine Bestimmung annahm, nahm er auch sein weiteres Schicksal an, und nun schaut er darauf mit der oben erwähnten Mischung aus Stolz und Entsetzen.
Der Schauspieler Ben Becker geht bei der Sichtbarmachung dieser widerstreitenden Gefühlszustände in die Vollen, für meinen Geschmack ein bisschen zu arg. Die ruhigen Momente sind stark und eindrucksvoll, dort bringt Becker seine körperliche Präsenz sehr gut zur Geltung, doch zwischendurch gehen immer mal die Gäule mit ihm durch und er steigert sich in ein Pathos, das nach meiner Wahrnehmung durch den brillanten aber eher intellektuellen Text nicht gedeckt wird. Stärker, viel stärker ist der Sprecher Ben Becker und der gleicht das gelegentliche Manko des Schauspielers vollkommen aus. Mir wäre es fast lieber gewesen, ich hätte Beckers Vorstellung nur gehört, denn stimmlich ist er derartig stark und ausdrucksvoll, dass mir seine manchmal zu gespreizte Mimik eher störend vorkam. Gut, zum Ausklang gibt’s dann noch ein paar Luftbilder aus Berlin, die ich definitiv nicht gebraucht hätte, und „Sympathy for the devil“ in der Motörhead-Version – na ja… Alles in allem sind dies aber schon anderthalb sehr eindrucksvolle und vor allem sehr anregende Kinostunden. Die frappierende Komplexität und Kühnheit des Textes von Walter Jens wird’s von Ben Becker kongenial interpretiert, und wer sich vorher vielleicht gefragt hatte, was wir den heutzutage mit der Figur des Judas überhaupt noch anfangen können, der wird nachher vielleicht für sich eine Antwort gefunden haben. Mir ging das jedenfalls so und ich hatte einen extrem interessanten und spannenden Abend. (31.10.)