In Zeiten des abnehmenden Lichts von Matti Geschonneck. BRD, 2016. Bruno Ganz, Hildegard Schmahl, Sylvester Groth, Evgenia Dodina, Alexander Fehling, Natalia Belitski, Gabriela Maria Schmeide, Nina Antonowa, Inka Friedrich, Angela Winkler, Thorsten Merten

   Selten genug kommt es mal vor, doch es kommt vor, dass ich einen Kinofilm überzeugender finde als seine Buchvorlage. Ich empfand Eugen Ruges Roman als viel zu ausufernd, ausgefranst, die nötige Intensität und Dichte hat sich mir beim Lesen kaum eingestellt. Und das bei diesem interessanten Thema. Eine Familienchronik über vier Generationen und doppelt so viele Jahrzehnte, Kommunismus und Faschismus, Emigration und Exil, Deportation, Gulag, Tod, Rückkehr in die DDR, um dort dann in dem neuen System auf die eine oder andere Weise zu leben, mitzuwirken, aufzusteigen. Ruge entfaltet seinen stark autobiographisch geprägten Stoff maximal breit und aufgesplittert, zudem in einer Sprache, die mir persönlich nicht sonderlich gefallen hat, und für meinen Geschmack verliert er dabei viel von der emotionalen Kraft, die diese Familiengeschichte beinhaltet. Der alte Drehbuchroutinier Wolfgang Kohlhase nun macht‘s genau umgekehrt, er fokussiert, konzentriert, dampft ein – und er liegt absolut richtig, denke ich. Er nimmt sich mehr oder weniger nur eine einzige Situation, Wilhelm Powileits neunzigsten Geburtstag, und nutzt dieses Zusammentreffen für ein Porträt einer Familie und des Staates, in dem diese Familie lebt, beziehungsweise vor dem sie flieht.

   Wir schreiben das Jahr 1989. Wilhelm Powileit, Parteimitglied seit Gründungszeiten, stets glühend überzeugter Anhänger der Partei, der Idee, der Bewegung, ein Hardliner der ersten Stunde, überzeugter Stalinist, Verächter der Tschows, wie er sie nennt, die Weicheier, die Verräter, die den Kommunismus nun vor die Wand fahren, dieser Wilhelm Powileit wird nun neunzig, und sie alle kommen, die Partei, die Brigaden, die Pioniere in Blauhemden, die VEBs, die Nachbarn und natürlich vor allem die Familie. Seine Ehefrau Charlotte, die einst ihren Ehemann für Wilhelm verließ und ihre zwei Söhne mit in die Ehe brachte, die dem neuen Mann zuliebe die Religion Kommunismus für sich annahm, die stets mit allem zurücksteckte, die sich ganz in seinen Dienst stellte, die mehr als ein Jahrzehnt Exil in Mexiko ertrug, die vor allem ertrug, dass sie ihre beiden Söhne an Stalins Säuberungen verlor. Der eine, Werner, starb im Lager, der andere, Kurt, kehrt in den 50ern nach zehn Jahren Gulag zurück in die DDR, zusammen mit einer Frau Irina, die er in Russland kennenlernte und heiratete. Kurt versucht, sich mit dem System zu arrangieren, er schreibt brave Geschichtsbücher im Sinne der Bewegung, er legt sich eine Geliebte zu und er versucht, mit dem Stiefvater klarzukommen, obwohl der keine Götter neben sich duldet. Irina hat ihr Mütterchen aus Russland mitgebracht, und ihr bester Freund heißt Wodka, weil sie weiß, dass Kurt sie betrügt und weil sie seien Zärtlichkeiten vermisst. Kurt und Irina haben einen Sohn, Sascha, der die Republik verlassen wird, seinen Eltern aber erst Bescheid sagt, als er schon drüben im Westen ist. Kurt trifft ihn kurz zuvor noch einmal und hat eine letzte Debatte mit ihm über das Leben in der DDR, aber wie jedes Mal zuvor kommen sie auch diesmal nicht auf einen Nenner. Sascha wiederum hat mit der Ärztin Melitta einen Sohn, Wilhelm Powileits Urenkel also. Melitta wusste von Saschas Absichten, hat sich aber entschlossen, in der DDR zu bleiben.

   Das klingt kompliziert, das ist es auch, und wie Kohlhase es gelungen ist, diese unglaublich belastete, komplexe, konfliktreiche Konstellation auf die Leinwand zu bringen, ohne uns schier zu erdrücken, das ist schon höhere Drehbuchkunst. Er tut dies keineswegs ironie- oder humorfrei, muss aber zu keiner Zeit die gewohnten DDR-Kalauer aus der Schublade holen. Er tut dies mit dem gebotenen Ernst, zieht uns Zuschauer aber nicht mit in den Abgrund. Der Film benötigt vielleicht eine Viertelstunde, bis er seinen Rhythmus findet, bis er vor allem seine Sprache findet und die Bürde der literarischen Vorlage abgestreift hat. Sobald das geschehen ist, wird aus dem Film eine überaus eindrucksvolle, beklemmende Psychostudie, ein Gruppenbild mit greisem, halbwegs dementen Tyrann in der Mitte, das Bild einer Gesellschaft, die in Schwinden begriffen ist, dies wohl auch spürt, sich aber unverdrossen an den alten Phrasen und Strukturen festklammert, so als sei der verfall noch irgendwie aufzuhalten. Viele verschwinden in den Westen, die Hinterbliebenen werden natürlich fortan gleich mit als Republikflüchtlinge behandelt, die alten Kader verschanzen sich hinter den Überresten ihrer Autorität oder ziehen sich wie in Wilhelms Fall in leeres Geschwafel über die guten alten Zeiten zurück, als noch der wahre Glaube herrschte und die Defätisten noch nicht am Ruder waren. Kohlhase und der routinierte Regisseur Geschonneck wiegen dabei die Worte sorgfältig gegen die Bilder ab, arbeiten sehr gekonnt mit Motiven, mit Stimmungen, mit Dekors und schaffen eine dichte Atmosphäre, die mit Ausnahme des etwas holprigen Auftakt bis zuletzt Bestand hat. Da gibt‘s noch einen kleinen Ausflug nach Russland, nach Slawa, wo kurt Irina kennenlernte, und wo Irina nun auch stirbt und begraben wird.

   Die Geschichte einer Familie, die sich nie von ihrer dominierenden Vergangenheit lösen kann, deren Defekte, Verluste, Schmerzen und Konflikte so tief reichen, dass sie unlösbar scheinen, nur mithilfe von innerem Exil, Resignation, einer Medikamentenüberdosis für den Tyrannen, systematischer Alkoholsucht oder eben Flucht halbwegs bewältigt werden können. Diese Last der Vergangenheit ist nicht leicht in Bilder zu fassen, aber diesem Film ist es mal gelungen, und dabei hat natürlich das fabelhafte Schauspielerensemble maßgeblich mitgewirkt. Man könnte Bruno Ganz herausheben, wie es oft getan wird, ich würd’s aber nicht tun, denn die anderen stehen ihm in nichts nach, vor allem Sylvester Groth, der im deutschen Fernsehen kaum noch adäquate Rollen findet, darf mal wieder zeigen, welch ein hervorragender Charakterdarsteller er ist.

 

   Nachdem der Trailer versucht hat, eher in Richtung Komödie zu gehen und meine Erwartungen entsprechend gedämpft waren, sehe ich mich sehr angenehm überrascht von einem der bislang besten Filme über die Zeit der DDR. (15.6.)