Insyriated (Innen Leben) von Philippe Van Leeuw. Belgien/Frankreich/ Libanon, 2017. Hiam Abbass, Diamand Abou Abboud, Juliette Navis, Mohsen Abbas, Moustapha Al Kar, Alissar Kaghadou, Ninar Halabi, Elias Khatter, Mohammad Jihad Sleik
Ein Tag im Krieg. Eine Stadt im Krieg. Eine Familie im Krieg. Die Familie von Oum lebt im Mietshaus in einer großen Wohnung, die beiden Eltern, drei Kinder, der Großvater und die Haushaltshilfe Delhani. Nun hat auch eine kleine Nachbarsfamilie dort Platz gefunden, da ihre eigene Wohnung von einer Granate zerstört wurde. Halima und ihr Mann Samir und das gerade neugeborene Kind. Sie wollen das Land verlassen, über Beirut vermutlich nach Frankreich auswandern, fort vom mörderischen Bürgerkrieg. Doch am Morgen wird Samir draußen auf dem Weg zur Uni von einem Scharfschützen niedergeschossen und bliebt leblos liegen. Delhani sieht es, erzählt Oum davon, doch die entscheidet, Halima zunächst nichts zu sagen. Oums Mann ist auch nicht bei ihnen, ist irgendwo draußen in der Stadt, doch gibt es im Moment keine Verbindung zu ihm, kein Handynetz, keiner Gewissheit. Oum ist fest entschlossen, ihre Wohnung, die ihr allererstes zuhause ist, zu verteidigen und sieht auf strenge Disziplin. Die Wohnungstür ist verbarrikadiert, die Küche ihr Schutzraum, wenn wieder die Flugzeuge kommen, und bei Tag geht niemand mehr vor die Tür wegen der Heckenschützen. Die Gemeinschaft steht unter äußerstem Stress, und Oum versucht, sie mit Autorität zusammenzuhalten. Dann dringen zwei Männer in die Wohnung ein, Halima, die nicht mehr rechtzeitig in die Küche konnte, weil ihr Baby noch in ihrem Zimmer liegt, ist ihnen ausgeliefert, während die anderen atemlos in der Küche auf lauschen, was Halima nun über sich ergehen lassen muss. Oum bittet sie danach um Verständnis, doch sie schämt sich auch, weil sie ihr nicht beistehen konnte. Dann erzählt sie von Samir. Völlig au0ßer sich stürzt Halima nach draußen, um Samirs Leiche zu bergen. Oums älteste Tochter und deren Freund begleiten sie. Sie entdecken, dass Samir noch lebt und können ihn in die Wohnung schleppen. Oum organisiert seine Versorgung und kümmert sich darum, dass Freunde ihn in ein Krankenhaus bringen. Halima hat nach wie vor die Möglichkeit, das Land wie geplant zu verlassen, auch Oum wird gedrängt, die Wohnung zu verlassen, doch sie weigert sich strikt. Abend empfängt sie immerhin eine bruchstückhafte Nachricht ihres Ehemannes, ohne zu wissen, von wann diese Nachricht genau ist und ob er überhaupt noch lebt. Am nächsten Morgen steht der Großvater dann wieder rauchend am Fenster und sieht hinaus in die Trümmer, so wie am Tag zuvor. Dies wird ein weiterer Tag im Krieg.
Ein kurzer und wahnsinnig intensiver Film über Menschen im Krieg. Kein Film, der dezidiert und konkret politisch argumentiert, der irgendwelche Hintergründe des syrischen Bürgerkriegs beleuchtet oder bewertet, und das ist auch gar nicht nötig. Die Gültigkeit des Films weist weit über diesen einen Krieg hinaus auf so gut wie jeden anderen, und es ist noch nicht einmal nötig, einen einzigen Soldaten, ein einziges Kampfflugzeug zu zeigen, um den Krieg dennoch allgegenwärtig sein zu lassen. Die Hintergrundgeräusche, die Explosionen, die Schüsse, die eilig auseinanderlaufenden Menschen auf der Straße, die Panik vor dem Infrarotsucher dieser barbarischen Heckenschützen, vor allem aber die Situation der Menschen sprechen eine mehr als deutliche Sprache. Draußen also toben sich die Männer aus und tun, was sie scheinbar am liebsten tun – Bomben und Granaten werfen, morden, rauben, vergewaltigen, und drinnen sind es vor allem die Frauen, die irgendwie versuchen, sich und ihre Familien durchzubringen, weiter zu leben, überhaupt so etwas wie eine Basis für Leben an sich zu erhalten. Die Menschen in der Stadt sind Gefangene, sind Geiseln des Krieges, Faustpfand der Mörder, Kriegsbeute der Männer, die sich nach wie vor die Frauen nehmen, wie es ihnen beliebt, weil irgendjemand mal gesagt hat, im Krieg sei das gestattet. Die Scham, Hilflosigkeit, Ohnmacht der Frauen überträgt sich mit heftiger Wucht auf uns Zuschauer, eine lange, quälende Szene, die ich nicht leicht auszuhalten fand. Oum muss sich klar entscheiden, Hamila womöglich zu opfern oder ihre gesamte Familie zu gefährden, und sie hat gelernt, diese Entscheidungen zu treffen und mit ihnen zu leben, obwohl ihr das sichtlich schwer fällt. Der Krieg bringt die Opfer dazu, sich lieber den Tod des Nächsten zu wünschen als den eigenen. So entschuldigt sich auch Oums Tochter Yara nach der Rettung von Samir bei Hamila, weil sie während der akuten Bedrohung durch einen Scharfschützen gebetet hatte, es möge nicht sie erwischen sondern lieber Hamila. Die tiefe, berührende Menschlichkeit dieses Moments liegt immerhin darin, es erkannt zu haben, die eigenen Gefühle reflektiert zu haben und nicht abzustumpfen und zu verdrängen. Dieses Zeichen setzt „Innen Leben“ also auf jeden Fall und das tut er absolut überzeugend und konsequent. Während Großvater Abou sich resigniert aus der Gegenwart zurückzieht und erklärt, dies sei nicht mehr seine Welt, wissen Frauen wie Oum und Halima, dass sie sich den Luxus dieser Haltung nicht leisten können, und sie beide ziehen ihre Konsequenzen, wenn auch grundsätzlich verschiedene. Die eine will Syrien verlassen, um anderswo neu zu beginnen, die andere will ganz bewusst bleiben, weil sie schon zu oft vertrieben worden ist und endlich sesshaft sein will. Dazwischen die Kinder, die in ihrer ganz eigenen Welt leben, irgendwie ein wenig abgehoben von dem Alltag, der sie umgibt, und dennoch stets grausam von ihm geprägt, bedroht und maßgeblich beeinträchtigt in ihrer Entfaltung, ihrer Lebensfreude, ihrer Jugend.
Sehr dicht und konzentriert erzählt wie ein Theaterstück, die Enge des Raumes perfekt spürbar machend, auf einen einzigen beispielhaften Tag fokussiert, der für all die endlos vielen anderen steht, ist „Innen Leben“ ein extrem eindrucksvolles Drama mit großartigen Schauspielern, wie gesagt zeitlos in vieler Hinsicht. Wer also den syrischen Bürgerkrieg erklärt bekommen möchte, der wird hier wenig Erleuchtung finden, verkennt aber zugleich, dass der Regisseur für mein Empfinden auch zu keiner Zeit Anspruch darauf anmeldet. Hier geht es nicht um die Ursachen des Krieges, sondern um seine Wirkung auf die Zivilmenschen, und wenn man sich mal all die vielen Filme über Krieg ansieht, stellt man plötzlich fest, dass es davon gar nicht so sehr viele gibt, denn in den meisten, so habe ich wenigstens den Eindruck, stehen doch nach wie vor noch die Uniformträger im Mittelpunkt. Diese Perspektive ist hier radikal anders, und gerade das hat mir besonders gut gefallen. (26.6.)