20th Century Women (Jahrhundertfrauen) von Mike Mills. USA, 2016. Annette Bening, Elle Fanning, Greta Gerwig, Lucas Jade Zumann, Billy Crudup

   1979 – was war das eigentlich für ein Jahr? Für uns in Europa sicherlich ein anderes als für die Amis drüben in Santa Barbara, Südkalifornien. Ein paar Sachen aber galten für alle: Die 60er waren endgültig und längst vorbei, der sogenannte Hippiegeist wandelte sich langsam aber sicher in die bis heute dominante Ich-Bezogenheit, der Kalte Krieg mitsamt atomarer Bedrohung steuerte auf seinen Höhepunkt zu, Reagan, Aids und andere Plagen standen uns noch bevor, das Internet war noch nicht erfunden. Jimmy Carter schlug sich mit der Irankrise herum und sprach im TV zu seinem Volk was von Vertrauen und Zusammenhalt. Punk war fast schon wieder tot, die Szene sowieso unversöhnlich geteilt in die harten Jungs, die allein den „richtigen“ Punk hörten wie beispielsweise Black Flag, und die Kulturschwuchteln, die auf Talking Heads standen. Ein Umbruch stand bevor, ein Jahrzehnt später würde die Welt vollkommen anders aussehen.

   Dorothea stammt selbst wiederum aus einer anderen, ganz fernen Zeit, nämlich aus den 20ern. Sie wurde erst mit vierzig Mutter und nachdem ihre Ehe scheiterte, lebt sie nun allein erziehend mit ihrem fünfzehnjährigen Jamie (Jahrgang 64). Im Haus wohnen außerdem die Künstlerin Abbie (Jahrgang 55), die im Leben allgemein noch nicht so recht Fuß gefasst hat und nach Jahren unterwegs nun versucht, sich in Kalifornien als Fotografin zu etablieren, und der liebenswerte Späthippie William, mit dem Dorothea wohl mal kurz was hatte, mit dem sie nun aber gut Freund ist. Regelmäßig zu Besuch kommt Julie (Jahrgang 62), die sich mit Vorliebe hinten rauf in Jamies Zimmer schleicht, um dort mit ihm zu quatschen. Julie ist zwar nur zwei Jahre älter, hat aber jede Menge Erfahrungsvorsprung, hat schon reichlich unverbindlichen Sex gehabt, raucht, schmeißt auch mal anderes Zeug ein und flüchtet ansonsten hauptsächlich vor dem Zugriff ihrer Mutter, die Therapeutin ist und offenbar keine klare Grenze zwischen Beruf und Familie ziehen kann. Eine lockere WG, ein Miteinander von Menschen, die zumindest für kurze Zeit ihren Weg gemeinsam zurücklegen. Die Balance gerät ins Kippen, als Dorothea Abbie und Julie bittet, ihrem Jamie beim Erwachsen- bzw. Mannwerden zu helfen. Sie selbst traut sich das nicht zu und hofft darauf, dass die beiden Frauen gemeinsam ihre Kompetenz in die Waagschale werfen können. Fortan erlebt Jamie ein wahres Wechselbad, in dem es für den eher introvertierten Knaben wirklich nicht leicht ist, die Orientierung zu behalten. Julie lässt ihn nicht ran, schläft aber Nacht für Nacht neben ihm im Bett und hält ihm Vorträge über die für unkomplizierten Sex notwendige Distanz. Abbie ermutigt ihn, jedwedes Thema frei und offensiv anzugehen und drückt ihm einen Kanon mit feministischen Büchern in die Hand. Infolgedessen befasst er sich rein theoretisch mit den unergründlichen Geheimnissen des weiblichen Orgasmus‘, darf aber wie gesagt nicht praktisch üben, und da Julie überhaupt noch nie einen hatte, ist sie ihm auf diesem Gebiet keine reelle Hilfe. Und dazwischen grätscht Dorothea immer wieder rein und versucht, als Mutter nicht total den Kontakt und den Anschluss zu verlieren. Kurz nach dem hier geschilderten Sommer zerbricht die Gemeinschaft: Julie verlässt Kalifornien, geht mit ihrem neuen Freund nach Paris. Abbie bleibt vor Ort und kriegt tatsächlich ein eigenes Fotoatelier. William geht auch weg, zieht nach Arizona, heiratet, lässt sich wieder scheiden, trifft eine Neue und macht auf jeden Fall einen eigenen Töpferladen auf. Dorothea wird einen neuen Mann kennenlernen und heiraten und 1999 an Lungenkrebs sterben – die logische Folge ihres unmäßigen Zigarettenkonsums. Jamie muss tatsächlich bis nach ihrem Tod warten, um endlich auf eigenen Beinen stehen zu können, selbst Vater zu werden. Und er weiß schon genau, dass es ihm unmöglich sein wird, seinem Sohn von Dorothea zu erzählen und was für ein Mensch sie war. Denn das lässt sich in Worten einfach nicht sagen.

   Genauso wundersam verschroben und verpeilt und auch verspielt und versponnen wie Dorothea ist dieser Film im ganzen. Ein Film, der mich sehr berührt hat, weil er mit ebenso viel Gefühl wie Witz und Zärtlichkeit Themen behandelt, die mir immer sehr am Herzen liegen – Freundschaft, Liebe, Familie, Zusammenleben, Lebensentwürfe allgemein. Das US-Indiekino hat auf diesem Gebiet immer ein paar ganz feine Exemplare zu bieten gehabt, zum Beispiel auch Lisa Cholodenkos “The kids are all right“, in dem Annette Bening ebenfalls eine Hauptrolle spielt und in den sie genauso so perfekt passt wie in „20th century women“. Die Besetzung ist überhaupt der Dreh- und Angelpunkt für den Erfolg solcher Produktionen, und die ist hier durchweg allererste Sahne. Bening, Gerwig und Fanning bilden eine ganz tolle Chemie zusammen, sehr intuitiv, entspannt und scheinbar spontan. Crudup fügt sich nahtlos ein, und Lucas Jade Zuman, eine Art junger Elijah Wood, ist ebenfalls äußerst überzeugend als Spielball zwischen den drei Frauen, denen er naturgemäß überhaupt nicht gewachsen ist. Die Lebensentwürfe sind logischerweise überaus amerikanisch – man findet sich, kommt sich näher, teilt das Leben für einige Zeit, bevor man sich dann wieder trennt und sich vielleicht nie wieder sehen wird. Ein Lebensabschnitt ist vorüber, ein neuer beginnt. Don’t look back ist die Devise. Die Off-Stimmen von Dorothea und Jamie schauen natürlich dennoch zurück, sie tun es jedoch ohne Nostalgie oder Sentimentalität, auch ganz ohne irgendeine Wertung. Das Leben war damals eben so, wie es war, und die Menschen waren es auch. Sie alle haben ihre Prägungen, ihre Defekte, ihre Verletzlichkeiten und Empfindlichkeiten. Sie alle haben ihre Medizin – Sex, Drogen, Musik, Kunst oder auch Verdrängen und Vergessen. Diese Medizin ist mal mehr, mal weniger wirksam, sie richtet mal mehr, mal weniger Schaden an, es gibt kein Richtig oder Falsch, es gibt nur Verständnis und Toleranz, die wirklich helfen. Indem sich die Menschen hier sehr nahe kommen, erfahren sie viel voneinander, geben viel von sich selbst preis, doch diese Selbstoffenbarung führt diesmal nicht zu Krisen und Demütigungen, im Gegenteil. Die WG ist eine kleine Welt für sich, eine Art Späthippiewelt, keine heile Welt wohlgemerkt, aber gerade für Leute wie Abbie oder Julie ein willkommenes Refugium gegen die Anfechtungen von außen. Dorothea befindet sich in einer Phase, die jede Mutter (und auch jeder Vater) durchleben muss, da sie nämlich spürt, dass ihr Sohn ihr schrittweise und unaufhörlich entgleitet. Je länger ich ihn kenne, desto weniger kenne ich ihn, befindet sie selbst, und natürlich versucht sie unaufhörlich, die größer werdenden Lücken zu schließen, und natürlich bewirkt sie damit nur das Gegenteil, obwohl Jamie eigentlich ein ganz lieber und gutmütiger Bursche ist, der einfach nur etwas Raum und Vertrauen braucht. Meine bessere Hälfte versicherte mir von der Seite, dass gerade das für Mamis eine ziemliche Herausforderung darstelle. Und dann kommen noch Abbie und Julie mit ihren altersgemäßen Dispositionen mit ins Spiel, und schon ergibt sich ein still vergnügter Reigen wunderbar beobachteter Alltagsmomente, oft nur kurze Gespräche oder Situationen, in denen das menschliche Miteinander ebenso genau wie liebevoll eingefangen wird.

 

   Genau das ist, der liebevolle Umgang mit den Figuren hier, der den Film prägt und ausmacht, und der Mike Mills hier viel besser gelungen ist als in „Beginners“ vor einigen Jahren. Ein Film von zärtlichem Humor und tiefer Zuneigung, sicherlich ein sehr persönlicher Film und ganz ohne Frage einer der schönsten US-Filme der letzten Jahre. (20.5.)