Leanders letzte Reise von Nick Baker-Monteys. BRD, 2017. Jürgen Prochnow, Petra Schmidt-Schaller, Tambek Tuisk, Suzanne von Borsody, Artjom Gilz, Yevgeni Sitokhin, Mariya Kochur, Natalia Bobyleva
Leanders letzte Reise führt in die Ukraine. Dort war er im Krieg „tätig“, hat eine Kosakenkompanie angeführt. Man weiß schon, dass dies keine leichte Reise sein wird. Er sagt selbst, er hätte sie längst machen sollen und nicht erst mit zweiundneunzig, aber nun, nachdem seine Gattin direkt neben ihm auf dem Fernsehsofa sanft entschlummert ist, packt er endlich seine Koffer und steigt in den Zug nach Kiew. Seine Tochter Uli obgleich sie alles andere als ein inniges Verhältnis zum Vater hat, will den alten Mann auf keinen Fall allein reisen lassen, also schickt sie ihre Tochter Adele, zu der sie wiederum auch kein inniges Verhältnis hat, hinterher, um den Opa am Bahnhof aufzuhalten. Doch der Opa ist nicht aufzuhalten, und ehe sie sich‘s versieht, hat Adele die Abfahrt des Zuges verpasst, und auf geht’s nach Osten. Mit im Abteil sitzt unter anderem Lew, ein Russe, der in Berlin arbeitet und sonst in der Ukraine lebt und erstmal für sich selbst klarkriegen muss, wohin er nun gehört. Denn in der Ostukraine gibt’s Krieg, und plötzlich ist es wieder sehr wichtig geworden, zu welcher Seite man sich zählt. Adele hört, wie ihr Opa russisch mit Lew spricht und merkt, dass sie herzlich wenig über ihn weiß. Speziell über seine Zeit im Krieg, denn darüber hat er nie gesprochen. Auch jetzt ist er nicht sehr auskunftswillig, doch wenigstens hier und da öffnet er die Tür mal ein kleines Stück, und Adele kriegt wenigstens eine kleine Ahnung davon, was damals im Krieg geschehen ist. In Kiew kommen Opa und Enkelin bei Lews Familie unter und werden Zeugen eines erbitterten Familienstreits. Lews Bruder kämpft auf Seiten der Separatisten, Lew scheint ihn dafür zu verachten, doch er weiß wie gesagt selbst nicht, ob er sich für eine der beiden Parteien entscheiden kann. Opa erklärt plötzlich, dass er in der Ukraine eine Frau sucht, die er einst kannte und liebte. Nach einigen Erkundigungen findet Lew heraus, dass sie weit im Osten wohnt, genau dort, wo es jetzt besonders gefährlich ist, und als sie sich endlich bis dorthin durchgeschlagen haben, erfahren sie, dass sie noch immer nicht richtig sind und noch weiter nach Osten müssen, nach Russland nämlich. In einem Dorf auf dem Land schließlich treffen sie auf zwei Frauen, Mutter und Tochter. Die Frau, die Leander sucht, war ihre Mutter bzw. Oma. Und Leander ist ihr Vater bzw. Opa. Er und die Frau sind damals getrennt worden, haben sich nie wiedergesehen, und sie ist 1974 an den Folgen der Haft gestorben. Ihre gemeinsame Tochter hat überlebt, und Leanders Bild hängt noch immer in dem kleinen Haus. Die drei sind kurz beisammen und erinnern sich, dann reisen Leander, Adele und Lew wieder ab. Leander stirbt auf der Rückreise, und auch Lew bleibt zurück, verspricht Adele aber, zu ihr nach Berlin zu kommen, wenn er herausgefunden hat, wo er steht.
Die Reise dient wie so oft als probates Mittel, um den Weg zurück in die eigene Vergangenheit und damit zu sich selbst zu verdeutlichen. Für Leander kann es nur in diese Richtung gehen, denn eine Zukunft hat er sowieso nicht mehr, seine Zukunft hörte vor fast siebzig Jahren auf, als er zusammen mit anderen Dörfer ausrottete, Partisanen bekämpfte, Frauen, Kinder und Kriegsgefangene ermordete. Und danach in einem Gulag verschwand, um nach sechs Jahren amnestiert zu werden. Zwar heiratete er und gründete eine Familie, doch richtig gelebt hat er nie wieder. Zur Zukünftigen sagte er: Ich werde dich nie lieben, aber wenn du damit leben kannst, dann können wir heiraten. Daran hat er sich gehalten, so war auch sein Verhältnis zur Tochter und zur Enkelin, und dies färbte letztlich auch ab auf das Verhältnis von Tochter und Enkelin zueinander. Das sieht Adele ein: Indem sie mit ihrem Opa nach Osten fährt und einiges über ihn erfährt, versteht sie auch besser, wieso sie und ihre Mutter so geworden sind. Es ist eine der angenehmen Seiten dieses Films, dass er sich in all diese vielen Konflikte nicht allzu sehr hineinwühlt, sondern einen guten Blick für das Wesentliche hat. Das Wesentliche, das sind Leander und seine reise, sowie Lew und seine Reise. Die eine führt in die Vergangenheit, die andere in die Zukunft. Die eine wird am Ende des Films am Ziel angekommen sein, die andere wird gerade erst richtig losgehen. Ob Leander nun seinen Frieden machen konnte, bleibt offen, denn er hat Recht, er hätte viel früher fahren müssen, nun hat er seine Geliebte verpasst und es ist zu spät für diese erste Familie. Die erwartete Auseinandersetzung mit den von ihm verübten Kriegsverbrechen findet eher indirekt statt, es geht ihm vielmehr um die Sache nach dieser Familie. Natürlich wird’s an vielen Stellen konfrontiert, immer wenn er auf ältere Ukrainer trifft, die sich noch an die Deutschen und ihre Untaten erinnern können, oder sogar den einen, der einst mit ihm kämpfte und genau weiß, was sie damals taten.
Eine komplexe, spannende Thematik, der der Film über weite Strecken ganz gut gerecht wird, Sicherlich hätte er tiefer gehen können, hätte auch viel schmerzhafter sein können und hätte vielleicht an der einen oder anderen Stelle seine Zeit ein wenig sinnvoller einteilen können, sprich die Rolle der Uli rauslassen, denn die hat mich gar nicht interessiert, und sich stattdessen konzentrieren sollen auf Opa und Enkelin und den Ukrainer, der zwischen den Kulturen, Identitäten, Fronten lebt. Immerhin findet das Drehbuch immer wieder sehr eindringliche, stille Momente und es versucht auch nicht, alles bis ins Letzte zu erklären und auszuleuchten – so bleibt das Fremde fremd und das halbwegs Vergessene unwiederbringlich verloren, es gibt kein Happy End, und es ist nur konsequent, dass Leander in der Ukraine stirbt, denn eigentlich ist dort schon 1944 gestorben. Genauso konsequent ist Lew, wenn er nicht mit nach Berlin fährt, denn er hat viel für sich zu klären, die Kluft innerhalb seiner Familie ist tief, die Kluft zwischen ukrainischen und russischen Nationalisten, und der Film tut gut daran, uns keine didaktische Geschichtslektion erteilen zu wollen, sondern und nachfühlen zu lassen, auf welche Weise die Folgen des Krieges (denn letztlich sind sie es ja) die Menschen dort noch heute verfolgen und treffen. Ein Stoff für einen eigenen Film, sollte man meinen, aber Buch und Regie haben die beiden Themen ziemlich überzeugend miteinander verknüpft.
Hervorzuheben sind besonders die vorzüglichen Schauspieler, die auch die eine oder andere Untiefe überspielen und ihre Rollen mit enormer Menschlichkeit und Präsenz gestalten. Besonders Prochnow und Schmidt-Schaller sind klasse zusammen, und ich hätte mir noch mehr gemeinsame Szenen mit den beiden gewünscht. Aber okay, so wie der Film ist, hat er mir gefallen, vielleicht nicht der ganz große Wurf in Sachen Vergangenheitsbewältigung und aktuelle politische Verstrickung, aber durchaus ein beachtlicher Ansatz und auf jeden Fall weit entfernt von den vielen TV-Produktionen, die man zu ähnlich gelagerten Geschichten häufig zu sehen bekommt. (27.9.)