Lion von Garth Davis. Australien/England/USA, 2016. Dev Patel, Sunny Pawar, Rooney Mara, Nicole Kidman, David Wenham, Abhishkek Bharate, Priyanka Bose, Divian Ladwa, Palavi Sharda
Hach ja – solche Filme erinnern mich immer daran, dass ich doch ein Herz habe. Ich vergesse das ab und zu, muss ich zugeben. Ergriffen habe ich jedenfalls zwei Stunden lang im Kino gesessen und auf die große Leinwand gestarrt – groß ist in diesem Fall wichtig, denn dies ist ein Film für die ganz große Leinwand. Und dabei geht’s eigentlich bloß um eine ziemlich kitschige Geschichte, aber soooo schön gemacht, dass selbst ein toter Fisch wie ich nicht ganz unbeteiligt zugeschaut hat.
Saroo ist fünf und lebt mit seinem älteren Bruder Guddu und der kleinen Schwester irgendwo in Mittelindien. Einen Vater gibt’s nicht, die Mutter Kamla schleppt Steine im Steinbruch, kann die Kinder kaum ernähren, sodass Guddu und Saroo schon selbst für sich sorgen müssen. Eines nachts ziehen die Jungs wieder los, doch diesmal geht alles schief: Guddu lässt den schlafenden Saroo am Bahnhof zurück, Saroo wacht auf, besteigt etwas desorientiert den nächstens Zug, schläft wieder ein, und als er aufwacht, ist er auf dem Weg nach Kalkutta in Bengalen, anderthalbtausend Kilometer weit weg. In der Riesenstadt schlägt sich Saroo eine kurze Zeit als Straßenkind durch, wird dann in ein Kinderheim gebracht, wird dort Zeuge von Missbrauch und anderen Schweinereinen, und wird schließlich von einem australischen Ehepaar, Sue und John, adoptiert, genau wie kurze Zeit später ein weiterer indischer Junge, Mantosh, der aber deutlich schwerere psychische Schäden hat. Saroo aber ist stark, wird Hotelfachwirt, lernt die schöne Lucy kennen, ist seinen neuen Eltern stets eine große Freude und Mantosh eine stetige Stütze, denn der kommt kaum zurecht im Leben. Bis er eines Tages auf einer Party eine Pfanne Jalebi sieht, jene Süßigkeit, nach der er sich als kleiner Junge immer gesehnt hatte. Dieses Ereignis triggert ihn dermaßen an, dass er von nun an alles daran setzt, seine biologische Familie wieder zu finden, und nach einigen Jahren der Suche ist es dann tatsächlich so weit.
Also Kitsch, gar keine Frage, wahre Geschichte oder nicht. Garth Davis hat es aber irgendwie fertig gekriegt, einerseits voll auf Gefühl zu setzen und dies von Anfang bis Ende konsequent durchzuziehen, und mich andererseits nicht zuzukleistern, zu ersticken. Er zeigt uns beide Welten, die Saroo erlebt, und er zeigt sie uns so eindringlich und bildstark, dass ich zumindest eine sehr konkrete Empfindung davon hatte, was in Saroo ausgelöst wird, als er diese besondere Süßspeise in Australien zwanzig Jahre später wieder zu Gesicht bekommt und sie zum ersten Mal überhaupt in seinem Leben probieren kann. Ungefähr eine Hälfte der Erzählung gehört Indien, und die Kraft und Intensität dieser Szenen ist enorm, die Bilder vom kargen, ärmlichen Leben auf dem Land bis hin zum Moloch Kalkutta, in dem Saroo im ein Haar versinkt, wie vielen anderen Straßenkindern einem Menschenhändler in die Hände fällt, doch dank seines Überlebensinstinkts entkommen kann. Sehr einfühlsam erzählt Davis aus der Perspektive des fünfjährigen Jungen, der nur Hindi spricht und nicht Bengali, der die irrwitzigen Eindrücke, die da nach dem Aufwachen im Zug und dem Hinaustreten in den Bahnhof jäh auf ihn einstürzen kaum verarbeiten kann, der völlig hilflos und desorientiert ist, der nicht weiß, wo er ist, der nicht genau weiß, woher er kommt, der erst recht keine Vorstellung davon hat, dass er anderthalbtausend Kilometer entfernt von seinem Zuhause ist. Er erlebt die Gewalt gegen Straßenkinder, die auf Pappkartons in Unterführungen schlafen, er erlebt den Missbrauch und den Kinderhandel in dem Heim, in das er gesteckt wird, und man kann sich leicht vorstellen, dass genau die früher oder später auch sein Schicksal geworden wäre. Die Adoption durch das australische Ehepaar muss unter diesen Umständen als pures Glück gesehen werden, auch wenn Saroo dadurch endgültig aus seinem bisherigen Leben herausgerissen, sprich von Mutter, Bruder und Schwester getrennt wird. Sehr schön behutsam wird dann der Übergang in die neue Welt geschildert, in eine Welt der Sicherheit, des Wohlstands, der Zukunftsperspektive, vor allem eine Welt des Geliebt- und Behütetwerdens, eine Welt also, zu der Saroo wohl niemals Zugang bekommen hätte, in der er scheinbar nichts entbehren muss, bis ganz plötzlich alles wieder zu ihm zurückkommt. Und wie Saroo sich dann jahrelang langsam wieder zurückarbeitet, wie er sich herantastet an seine Vergangenheit, an seien richtige Familie, wie er dabei mit bangen Gefühlen begleitet wird von Sue und John und Lucy, das ist einfach stark, vor allem grandios gespielt von Dev Patel, Rooney Mara (die beiden haben eine tolle Chemie zusammen), dem jungen Sunny Pawar mit seinem wahnsinnig schwierigen Part, und zum ersten Mal seit vielen Jahren hab ich sogar Botoxface Nicole Kidman wieder glaubhaft und richtig gut gefunden.
Ich denke, als Zuschauer hat man ein ziemlich gutes Gefühl dafür, ob hier echte Emotionen ausgedrückt werden, oder ob wir mit Hilfe einer perfekt funktionierenden Maschinerie lediglich manipuliert und geschmiert werden. Ich meine, Hollywood und auch Bollywood sind ziemlich geübt darin, gerade was tränenreiche Melodramen angeht, und das ist normalerweise echt nicht mein Ding. Genau diese Abgrenzung ist Davis gelungen, ich kann selbst gar nicht so ganz genau sagen, wie, vielleicht hatte ich auch nur einen besonders empfänglichen Nachmittag, kann gut sein, jedenfalls hat mich „Lion“ wirklich berührt und beeindruckt, etwa in der Art von „Slumdog Millionaire“, an den er streckenweise erinnert, allein schon wegen Dev Patel, klar. (6.4.)