Manchester by the sea von Kenneth Lonergan. USA, 2016. Casey Affleck, Lucas Hedges, Kyle Chandler, Michelle Williams, Gretchen Mol, C.J. Wilson, Kara Hayward, Anna Baryshnikoff, Heather Burns, Matthew Broderick

   “You’re a fucking asshole” sagt der sechzehnjährige Patrick eines schönen Tags im Auto zu seinem Onkel Lee, dem Bruder seines just an einer Herzkrankheit verstorbenen Vaters Joe, und irgendwo kann man ihm das gut nachfühlen. Lee ist gekommen, um die notwendigen Angelegenheiten zu regeln, denn Patricks Mutter Elise ist nicht mehr verfügbar, hat die Familie vor längerer Zeit verlassen, hat gesoffen und sich nun mit einem neuen, extrem christlich denkenden Mann zusammengetan. Lee ist also aus Quincy, Massachusetts nach Manchester-by-the-sea, Ma. gereist, wo er selbst auch gelebt hat, bis ein grauenvoller Unfall sein Leben restlos zerstörte. Ein Brand, den er selbst möglicherweise durch eine Nachlässigkeit (ein vergessenes Funkengitter am Kamin) auslöste, tötet alle seine drei Kinder, während seine Ehefrau Randi gerade noch gerettet werden kann. Die Ehe ging natürlich den Bach runter, Randi hat ihm offenbar ein paar fürchterliche Sachen gesagt, und nun jobbt er als Hausmeister, haust halb unterirdisch in einem ungastlichen Loch und lebt eigentlich gar nicht mehr. Sein Bruder, zugleich sein bester Freund, hat sich um ihn gekümmert, doch Lee hatte mit seinem Leben abgeschlossen, hat auf der Polizeistation nach dem Unfall versucht, sich mit einer Dienstwaffe zu erschießen, und war fortan kaum noch erreichbar für seine Mitmenschen. Und nun wird er mit Joes Testament konfrontiert, denn Joe hatte ganz genauer Vorstellungen, wie es nach seinem zu erwarteten baldigen Tod weitergehen sollte: Lee soll Patricks Vormundschaft bis zu dessen 21. Geburtstag übernehmen, soll in sein Haus nach Manchester ziehen, dort einen Job finden, für den Jungen da sein. Lee sieht sich total außerstande dazu, weiß selbst, das er kaum imstande ist, Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen, geschweige denn die Verantwortung für einen halbwüchsigen Jungen zu übernehmen. Und so macht er sich anfangs mächtig unbeliebt bei Patrick, indem er ihm gleich ein paar Dinge klarmacht, unter anderem, dass er auf keinen Fall in Manchester bleiben wird, dass er Patrick mit nach Boston nehmen wird, wo er einen Job findet und Patrick zur Schule geht. Patrick geht auf die Barrikaden, denn er hat herzlich wenige Gründe, Manchester zu verlassen. Hier hat er seine Freunde, zwei Freundinnen, sein Eishockeyteam, seine Band, und das Motorschiff seines Vaters, das er gern behalten und weiter an Ausflügler vermieten würde, und wenn sein Onkel ihn aus all dem herausreißen will, dann ist er ohne Frage ein fucking asshole. Lee gibt sich zunächst stoisch und drängt den Testamentsverwalter, einen anderen Vormund zu finden. Gleichzeitig versucht er schon, irgendwie mit Patrick klarzukommen, der unter seiner coolen, schnoddrigen Fassade natürlich auch ganz andere Seiten hat. Zugleich muss er die Beerdigung seines Bruders organisieren, und er muss auch die Wiederbegegnung mit Randi überstehen, die mit einem neuen Mann zusammenlebt und bald ein Kind erwartet. Randi sagt ihm, dass es ihr leid tut, was sie ihm einst an den Kopf warf und dass sie ihn noch immer liebt, Lee aber ist nicht in der Lage, mit Randi zu sprechen. Er schafft es schließlich, dass Joe bester Freund und Schiffsmiteigentümer George sich bereit erklärt, Patrick in seiner ohnehin großen Familie aufzunehmen und auch die Vormundschaft für ihn zu übernehmen. Lee wird nach Boston gehen wie geplant und er erklärt das Patrick auch, indem er sagt, dass er in Manchester nicht mehr leben kann, weil er nicht vergessen kann. Abends dann sitzen die beiden auf dem Pier am Meer in angeln.

   Eine echter Männerfilm also, was man vor allem daran erkennt, wie Probleme und Konflikte verarbeitet und ausgetragen werden – nämlich mit Vorliebe gar nicht oder durch irgendwelche Ersatzhandlungen. Wenn Lee es gar nicht mehr aushält, wenn der innere Druck zu hoch wird, dann haut er dem nächstbesten auf die Fresse, das funktioniert immer. Er muss nur in eine Kneipe gehen, dort findet sich schon einer, der ihm blöd kommt, erst recht in seiner alten Heimatstadt Manchester, wo der Name Lee Chandler offensichtlich in einigen Kreisen noch tief verhasst ist, denn der tragische Tod seiner Kinder wird ganz klar ihm zur Last gelegt, so wie er selbst es ja auch tut. Lee ist vollkommen in sich verkapselt, kann sein Gegenüber kaum direkt ansehen, braucht ewig lang für eine Antwort, wenn er denn überhaupt antwortet und ist natürlich komplett außerstande, mal für eine halbe Stunde Smalltalk mit einer deutlich interessierten Mama zu machen, damit Patrick ein Stockwerk höher endlich mal seine Perle klarmachen kann (eine der beiden, heißt das). Inmitten all der Melancholie und Schicksalsträchtigkeit findet sich in diesem Film sehr viel wunderbarer Humor, der maßgeblich dafür sorgt, dass sich die einhundertvierzig Minuten nicht wie eine Bleiweste auf uns legen. Patricks skurril organisiertes Privatleben sorgt für einige Heiterkeit, ebenso einige der vielen Rückblenden aus früheren, scheinbar glücklicheren Tagen, als Lee mit Randi und den drei Bambini als ganz normale Familie zusammen lebte, mit den Jungs um die Häuser zog, reichlich becherte und feierte oder mit Joe draußen auf dem Boot war. Natürlich sieht man schon, dass die Ehe reichlich in die Jahre gekommen und erschöpft war, und man sieht auch Lees verhängnisvollen Hang zu exzessivem, unvernünftigem Verhalten, die letztlich die fatalen Ereignisse in Gang brachte. Lee muss ganz neu lernen, für jemand anderen da zu sein, überhaupt für irgendwas da zu sein, sich zu interessieren, Verantwortung zu übernehmen, denn all das hatte er komplett abgelegt und sich in seinem Hausmeisterjob eingerichtet. In Manchester wird er nicht nur mit seiner Vergangenheit konfrontiert, sondern auch mit einem Sozialgeflecht, einem sehr kleinstädtischen obendrein, dem er sich nicht entziehen kann, sobald er sich entschließt, dort zu leben. Seinen anfänglichen Fluchtreflex kann er dann aber doch beherrschen und Patricks zuliebe eine andere Lösung erwirken, die zeigt, dass er durchaus mit anderen und für andere leben kann, und wenn er noch etwas mehr Zeit hätte, würde ihm das vielleicht auch mit Patrick gelingen, nur eben nicht in Manchester.

 

   Kenneth Lonergan hat ein großartiges Drama inszeniert, findet wie gesagt eine feine Balance zwischen tiefem Ernst und trockenem Humor und gibt der Geschichte vor allem Raum und Zeit, zu atmen, gibt damit auch uns Zeit, hineinzufinden in das spröde Beziehungsgeflecht, in den häufigen Zeitenwechsel, der assoziativ die Gegenwartsgeschichte häufig jäh unterbricht, wenn Lee mal wieder von einer Erinnerung heimgesucht wird. Bilder und Musik bilden eine fantastische, fast meditative Einheit, und mir persönlich hat es sehr wohlgetan, mal keine Städtelandschaft vorgesetzt zu kriegen, sondern das schöne Neu-England, in dem die Handlung ihren eigenen, ruhigen Rhythmus entfaltet. Die Schauspieler spielen ohne Allüren extrem natürlich und grandios, vor allem Casey Affleck, dessen eindringliches Porträt des Lee Chandler sicherlich im Kinogedächtnis haften bleibt. Das ist ein Film gänzlich außerhalb Hollywoods und auch gänzlich ohne die üblichen Hollywood-Zutaten und –Klischees, ein Film, der wie nur wenig andere in den letzten Jahren aus der US-Filmproduktion herausragt, von einem Autor und Regisseur mit einer ganz eigenen Handschrift. Ich werd jetzt erst mal versuchen, seine früheren Filme ausfindig zu machen, denn die waren bei uns bislang nicht so wahnsinnig präsent… (31.1.)