Quand on a 17 ans (Mit siebzehn) von André Téchiné. Frankreich, 2016. Kacey Mottet-Klein, Corentin Fila, Sandrine Kiberlain, Alexis Loret, Jean Corso, Mamma Prassinos, Jean Fornerod
Meinen letzten Téchiné-Film hab ich vor sage und schreibe 18 (in Worten: achtzehn) Jahren im Kino gesehen, das war „Alice et Martin“. Davor ein knappes Jahrzehnt regelmäßiger Präsenz, danach war plötzlich Pause. Für uns in der BRD jedenfalls. Zwei Filme noch im Kulturprogramm des TV, aber im Kino: Nichts. Dabei hat Téchiné immer weiter Filme gedreht, sieben nach 1998 und vor diesem hier, um genau zu sein, Filme mit Leuten wie Deneuve, Depardieu, Haenel, Béart, Dussolier und so weiter, berühmten Stars also, die auch außerhalb Frankreichs nicht ganz unbekannt sind. War aber nicht mehr gefragt, der Stil dieses Regisseurs, ein wenig zu sperrig vielleicht, zu wenig anschmiegsam, zu wenig gefällig, und ausgerechnet jetzt, im Zeitalter des totalitären Wohlfühldiktats, findet Téchinés neuester Film mal wieder den Weg in unsere Säle. Und eigentlich darf ich noch nicht mal meckern, sondern muss heilfroh sein, dass das überhaupt so ist. Aber ich meckere trotzdem – jeder noch so beschissene Marveldreck aus den USA wird brav gefressen, anerkannte Filmemacher (und da ist Téchiné ja nicht der einzige) bleiben plötzlich draußen vor. Was zum Teufel ist bloß los mit unseren Verleihern????
All dieser Verdruss, der mich glaube ich schon seit Ewigkeiten begleitet und schmerzt, hat natürlich nichts mit diesem Film zu tun, denn der ist großartig, ein wahres Meisterstück eines Meisterregisseurs, der ja immer im Fahrwasser der ganz großen Generation der in den 20ern und 30ern Geborenen trieb (also der Generation Resnais, Rivette, Rohmer, Godard oder Truffaut), der von Anfang an seinen ganz eigenen Weg ging und diesen Weg bis heute noch immer konsequent verfolgt. „Quand on a 17 ans“ könnte ebensogut aus den mittleren 90ern sein, und das ist in diesem Fall als großes Kompliment zu verstehen, denn das ist die Zeit, die hierzulande als seine beste gilt, was aber nur damit zu tun hat, dass uns danach glatt zwei Jahrzehnte seines Filmschaffens fehlen. Okay, ich hör jetzt mit dem Nörgeln auf...
Zwei Jungs in einer Kleinstadt in den Pyrenäen: Damien lebt unten im Ort zusammen mit seiner Mutter Marianne, einer Ärztin, und seinem Vater Nathan, einem Armeeoffizier, der zumeist im Kriegseinsatz ist und immer nur kurzzeitig auf Besuch kommen kann. Thomas lebt als Adoptivkind auf einem abgelegenen Bergbauernhof. Mutter Christine hat bereits viele gescheiterte Schwangerschaften hinter sich, und als Marianne eines Tages zu ihr gerufen wird, stellt sie fest, dass es mal wieder soweit ist. Diesmal soll das Kind unbedingt durchkommen, also wird Christine gegen ihren Willen ins Krankenhaus geschickt. Die sehr zupackende Marianne beschließt, dass Thomas solange bei ihnen in der Stadt wohnen soll, zumal sich seine schulischen Leistungen in letzter Zeit stark verschlechtert haben und er durch den weiten Schulweg beeinträchtigt ist, der ihn täglich drei ganze Stunden kostet. Die Jungs sind gar nicht begeistert, denn irgendwas haben sie gegeneinander, fallen in der Schule durch völlig grundlose Aggressionen und Raufereien auf, die mal von Thomas, mal von Damien ausgehen und die schließlich dazu führen, dass der Rektor allemann zu sich zitiert und ihnen in Mariannes Beisein ernsthaft die Leviten liest. So langsam scheint sich das Verhältnis der beiden dann zu normalisieren, und vor allem macht Thomas gute Fortschritte in der Schule, hat endlich Zeit zu lernen und zu arbeiten, doch die Spannungen und Unebenheiten zwischen den beiden Jungs bleiben und müssen geklärt werden. Drei Dinge hat Damien zu verkraften: Den Tod seines Vaters durch eine Schussverletzung, den daran geknüpften Entschluss Mariannes, wegzuziehen und anderswo neu anzufangen, vor allem aber seine Liebe zu Thomas, die er nicht mehr in sich halten kann und die er sich regelrecht erkämpfen muss.
Téchiné hat diese Geschichte in drei Trimestern zwischen tief verschneitem Winter und sonnigem Frühsommer nicht als geschmeidiges, gefühliges, gepflegtes Coming-of-age-Drama erzählt. Er ist sich und seinen Überzeugungen treu geblieben, hält weiterhin diese unnachahmliche Balance zwischen respektvoller, diskreter Distanz und einer Nähe, die sich vor allem im Stil, in der Erzählweise niederschlägt. Er scheint seinen Figuren teilweise so nahe zu kommen, dass er sich geradewegs hineinstürzt in den Aufruhr, die Konfusion, die Panik, um dann im nächsten Moment innezuhalten, sich zu sammeln, einen Schritt zurückzutreten und erstmal einen langen Blick auf die grandiose Bergwelt zu werfen (vor allem die Winterbilder sind atemberaubend schön), um allen, auch uns, die Möglichkeit zu geben, Gefühle und Gedanken zu sortieren. Wie gewohnt erzählt er Szenen nicht immer ordentlich zu Ende, springt auch schon mal unvermittelt zur nächsten, kümmert sich auch nicht um eine übersichtliche zeitliche Reihung, doch gestaltet er jede Szene so stark und intensiv, dass ich mich immer schon vorher auf sie freue, unbedingt erfahren möchte, wie es weitergeht. Seine zurückhaltende Art, sich in die Hauptfiguren einzufühlen, ohne jede Ecke und Winkel ihrer Seele ausspähen zu wollen, ist einzigartig und funktioniert hier einmal mehr perfekt. Der Gefühlstumult, den Damien erlebt, der aber auch Thomas erfasst zu haben scheint, und der sich zunächst (typisch Jungs!) in total sinnfreien körperlichen Konfrontationen Bahn bricht, ist nicht Gegenstand einer Teeniekomödie, er wird absolut ernst genommen, aber er wird auch nicht zu schwer genommen und zum großen Drama aufgebauscht. Manchmal sind die beiden eben nur kleine Jungs, denen mal die Ohren lang gezogen gehören, und Marianne hat dafür ein ziemlich gutes Händchen, verliert nicht gleich den Kopf, bleibt gern auch praktisch und weiß, wie sie die Jungs auch wieder packen kann. Beim Nachbarn Paulo, einem ausgedienten Militär, üben sie boxen, mit Nathan, der kurz mal auf Fronturlaub da ist, wird gerauft und ein Baum gehackt, alles also Dinge, die sich dazu eignen, den Hochdruck im Kessel ein wenig zu abzulassen. Als Nathan dann stirbt und Marianne in tiefe Traurigkeit fällt, ist Damien erstmal allein, und Thomas‘ sehr ambivalenten Reaktionen auf seine Liebeserklärung sind nicht hilfreich. Während sich Damien seiner Mutter anvertraut, sieht Thomas diese Möglichkeit offenbar nicht, und doch zeigt die letzte Szene die beiden zusammen und gibt Hoffnung für die Zukunft.
Sehr beeindruckend ist auch, was hier schauspielerisch geboten wird. Die Rollen sind anspruchsvoll, komplex, sehr nahe am Leben, entsprechend eigenwillig, kantig, und es ist schon eine große Kunst, diese Charaktere dennoch in Gänze zu uns rüberzubringen. Ein Film, den ich extrem genossen habe, fast jede einzelne Szene, und er wie das Miteinander der Personen beobachtet. Zeitlos schön, ganz großes Kino. (21.3.)