Murder on the Orient Express von Kenneth Branagh. England/USA, 2017. Kenneth Branagh, Michelle Pfeiffer, Penélope Cruz, Daisy Ridley, Judi Dench, Olivia Coleman, Tom Bateman, Derek Jacobi, Johnny Depp, Leslie Odom jr., Josh Gad, Lucy Boynton, Sergei Polunin, Manuel Garcia-Rulfo
An der einen Frage kommt man irgendwie nicht vorbei: Wer braucht solch ein Remake? Höchstens die, die den Sidney-Lumet-Film von 1974 nicht kennen, falls es solche Leute gibt… Aber richtet sich ein Agatha-Christie-Film heute überhaupt noch an die jungen Kinogänger? Wohl eher nicht, denn das hier ist plüschiges Oldschool-Kino, liebenswert und stilvoll, aber wohl eher für uns alte Säcke, die an einem regnerischen Herbsttag mal so richtig nett und klassisch unterhalten werden wollen. So war übrigens auch das Publikum im Saal – weit und breit niemand unter 50, die meisten auch noch älter, und den Unterhaltungen vorher und nachher konnte ich entnehmen, dass so gut wie jeder den alten Film kennt, naja, ich ja auch. Also warum geh ich überhaupt rein? Überraschend kann mich hier nix mehr, es sei denn, Branagh hätte was ganz Verwegenes aus dem Hut gezaubert, aber das hätte er sich todsicher niemals getraut, selbst er nicht. Mir ging es folglich wie den meisten anderen – ein hübsches Kaffeefilmchen, gediegenes altmodisches Ausstattungskino für den kleinen Hunger zwischendurch.
Und was soll ich sagen, genau das hat Branagh zustande gebracht, was meinen Geschmack betrifft jedenfalls, und damit hat er alles richtig gemacht. Er hat das Pulver nicht neu erfinden wollen, gottseidank, er hat sein Ego so gut wie eben möglich im Zaum gehalten und er hat vor allem nicht versucht, den betagten Stoff an unsere heutigen Konsumgewohnheiten anzupassen. Er hat nur ganz wenige Szenen hinzugefügt, ohne die der Film übrigens prima hätte auskommen können (Jerusalem, Klagemauer undsoweiter), und er hat weitgehend der Versuchung widerstanden, die Story mit Action aufzupimpen, um sie vielleicht doch an ein größeres Zielpublikum zu bringen. Das ist sehr konsequent und verdient schon mal Respekt.
Uns bleibt wie erhofft der ultimative Whodunit, am Anfang ein Mord und danach nur noch die Suche nach Täter und Motiv, komplett mit eingeschränktem Setting (entgleister Zug in Schneewehe) und Personenkreis, wobei schon spürbar wird, dass Lumet sich noch mal zwanzig Minuten mehr genommen hat, um die Befragungen, Hercule Poirots Ringen gegen die unentwegten Lügen der Mitreisenden, noch ausführlicher und intensiver zu gestalten. Branagh bleibt seinem Temperament treu, er drückt ständig aufs Tempo, und so gesehen ist dieser Film dann doch ein wenig „zeitgemäßer“ als der ältere, der aus heutiger Sicht vermutlich noch betulicher wirkt. Doch geht er im Großen und Ganzen sorgsam und respektvoll mit der Vorlage um, leistet sich keinerlei Entgleisungen oder unangemessene Modernisierungen, und da ich nun wirklich nicht behaupten würde, dass die Romane Agatha Christies bislang durch die Bank sonderlich inspiriert oder gar adäquat verfilmt wurden, kann man in diesem Fall wohl von einer gelungenen Version sprechen, die sicherlich zu den besseren ihrer Art gehört.
Bleibt natürlich der Direktvergleich der Schauspieler. Zuerst mal Poirot – Branagh macht seine Sache gut, finde ich, und lässt vor allem den Shakespearestar in der Kiste, was ich ganz angenehm fand. Dass er trotzdem nicht der Poirot ist, den ich mir vorstelle und den uns vor allem Agatha Christie selbst vorstellt, steht außer Frage, aber das gilt in gleicher Weise für Finney oder Ustinov. Das übrige Ensemble ist zum Teil sehr prominent und gut, doch war Lumets Film meiner Absicht nach deutlich besser besetzt, was die Breite angeht. Klar, Leute wie Dench, Cruz, Pfeiffer, Jacobi oder Depp sind attraktiv und machen ihre Sache entsprechend routiniert, doch wenn ich mir der Besetzungsliste des 74er Modells so anschaue, fällt auf, dass auch die Nebenrollen mit Stars gespickt sind und daher schon ein ganz anderes Gewicht haben als hier. Ich meine, Leute wie Redgrave, Bisset, York, Cassell, Gielgud oder Perkins – das ist doch eine etwas andere Güteklasse als die zweite Reihe hier. Und die erste Reihe mit Bergman, Connery, Bacall oder Widmark muss sich hinter dieser Neufassung sowieso nicht verstecken. Was diesen Teil angeht, ist Lumets Film schon im Vorteil, auf allen anderen Gebieten steht der Branaghs Neufassung ihrem Vorgänger sicherlich in nichts nach. Und so hab ich ihn dann, meinen Samstagnachmittagsfilm mit Regen und Blätterrieseln draußen und einem vollen und leicht überheizten Kinosaal drinnen, und einer besseren Hälfte, die eben dieser Wärme zwischendrin glatt zum Opfer fiel. Gehört ja auch zum Samstagnachmittag…(11.11.)