Ryu san (Mr. Long) von Sabu. Japan/Taiwan, 2017. Chen Chang, Yi Ti Yao, Shô Aoyagi, Run-yin Bai, Masashi Arifuku, Tarô Suwa, Ritsuko Ohkusa

   Noch ‘ne Vater-Sohn-Kiste, wenn man so will, teilweise jedenfalls, obwohl das doch in die Irre führen würde, denn dieser Film lässt sich so schnell auf nix festlegen, der prescht so rasant durch die Genres, dass es mich ordentlich durchgerüttelt hat – aber begeistert hat es mich auch, denn „Mr. Long“ ist echt klasse, wenn auch auf diese ganz spezielle, sprich ziemlich wüste asiatische Art und Weise, die uns Wessis immer noch ein wenig Bauchweh bereitet. In der Vorankündigung zum Film wurde berichtet, dass Sabu bereits mehrere Male bei der Berlinale mit einer Regiearbeit vertreten war. Mag schon sein, Tatsache ist, dass ich noch nie einen seiner Filme sehen konnte, und auch im Falle von „Mr. Long“ bin ich mir wirklich nicht sicher, ob er den Weg in unsere kleine Stadt finden wird. Doch was hilft das Klagen, so ist es halt, wenn man in der Kulturprovinz lebt…

   Also, wir fangen an im Gangstermilieu und lernen Mr. Long kennen, der in Taiwan für Geld Leute tötet. Er wird für einen Auftritt rüber nach Tokyo geschickt, doch da geht alles schief, er kommt mit knapper Not davon, wobei er zum einen eine extrem rabiate Gangstertruppe kennen lernt und zum anderen einen einzelnen Mann, der verzweifelt nach seiner Frau fragt und schließlich gemeinsam mit Long unter feindlichem Beschuss endet. Long schleppt sich in eine total heruntergekommene Siedlung, haust zwischen halb verfallenen Blechhütten und lernt einen kleinen Jungen kennen, womit dann der nächste Abschnitt einsetzt. Jun lebt mit seiner Mutter hier, die drogensüchtig und ein Wrack ist, und nachdem der Kleine ihm auf die Beine geholfen hat, tritt Long in Aktion, Er fesselt Lily so lange, bis sie einen kalten Entzug erfolgreich übersteht und entpuppt sich obendrein als begabter Koch, besonders seine Nudeln mit Rindfleisch nach taiwaneisscher Art sind in der Nachbarschaft ein Bombenerfolg. Hier kommt nun ein weiterer Aspekt ins Spiel, denn diese Nachbarn sind sämtlich wunderbar verschrobene, schräge, exzentrische, verrückte, liebenswerte Leute, und obwohl die Sprachbarriere letztlich ein tieferes Verständnis verhindert, kommt es zu hinreißenden Momenten purer burlesker Komik, wenn Long völlig gegen seinen Willen zuerst zum Chefkoch des Viertels erklärt wird und schließlich auch noch einen rollenden Imbisswagen angedreht bekommt, der seinen festen Standort vor dem hiesigen Tempel hat und alsbald für reißenden Umsatz sorgt, weil ihm die Japaner seine taiwanesischen Rindfleischnudeln nur so wegfuttern. Long freundet sich mehr und mehr mit seiner neuen Rolle an, freundet sich vor allem mehr und mehr mit der schönen Lily und dem reizenden Jun an, und alles verläuft plötzlich in friedlichen, harmonischen Bahnen. Zwischendurch gibt‘s dann mal wieder eine Portion Drama, als uns Lilys Geschichte erzählt wird, denn die ist überaus traurig und schrecklich und erzählt von einer zerstörten Liebe, just zu jenem Mann, den Long unter dem Pistolenfeuer der Gangsterbande kennenlernte. Drogen, Gewalt, Prostitution kamen über sie, und wenn Long nicht eingegriffen hätte, wäre sie ohne Frage verloren gewesen. Gerade also, als wir darauf hoffen dürfen, nun auch noch eine zarte Liebesgeschichte zwischen zwei gestrandeten Seelen serviert zu bekommen, schlägt das Schicksal aber wieder unbarmherzig zu. Der grausame Kerl, der Lily einst in die Sucht und die Anhängigkeit zwang, taucht plötzlich wieder auf und mit ihm gleich die ganze Gangsterbande dazu. Lily erträgt den Gedanken nicht, rückfällig zu werden und ihr neues Glück wieder zu verlieren und erhängt sich. Long stellt sich in rasender Wut der Bande und massakriert jeden einzelnen von ihnen, wobei Jun und die Nachbarn dem blutigen Amoklauf entgeistert zusehen. Dann verschwindet Long zurück nach Taiwan, nimmt seinen alten Job wieder auf, und doch kommt es zu einer neuerlichen Wendung, als eines Tages vollkommen unerwartet die alten Nachbarn aus Toyko mitsamt Jun in seiner Stadt auftauchen, ihm quer über die Straße frenetisch zuwinken und kurzerhand den kompletten Verkehr zum Erliegen bringen beim Versuch, zu ihm rüberzukommen. Warum seid ihr hergekommen, fragt Long immer wieder, zunächst total perplex, doch dann zunehmend glücklich, denn er weiß jetzt, was sein Weg sein wird, und in der letzten Szene sehen wir ihn als ganz normalen Vater, wie er Jun morgens zur Schule schickt.

   Kein Happy End, raunte ich meiner besseren Hälfte noch zu, als Lily tot von der Zimmerdecke baumelte, und es wäre bei diesem Film auch nicht weiter überraschend gewesen. Zehn Minuten und ein heftiges Blutbad später musste ich mich dann eines Besseren belehren lassen und hab es gern hingenommen, denn natürlich hatte jedermann im großen großen Berlinalesaal dem Mr. Long und seinem, Jun ein gutes Ende gegönnt, und so fiel der mehr als verdiente Applaus schlussendlich ein wenig erschöpft aber auch erleichtert aus. Zwei volle Stunden lang stehen wir unter Dauerbeschuss und das kann einen schon ganz schön mitnehmen. Zwischen irrwitzig überzogener Brutalität und zarter Liebe, wüstem interkulturellen Slapstick und schüchterner Poesie geht’s fortlaufend auf und ab, nie weiß man so recht, was als nächstes drankommt, immer aber muss man auf alles gefasst sein, und irgendwas wartet todsicher hinter der nächsten Kurve. Beeindruckend ist, wie souverän Sabu diesen akrobatischen Schlingerkurs durchzieht, ohne jemals die Kontrolle zu verlieren. Sein Mr. Long ist einer jener typischen asiatischen Helden, stoisch, unnahbar, oft ungerührt, und dennoch getrieben von gewissen Wertvorstellungen, die er sich im Laufe der Zeit und seiner Erfahrungen aneignet und an denen er festhält, und deshalb vor allem ist er letztlich seinen Gegnern überlegen. In diesem Fall trifft er einige Entscheidungen selbst, einige jedoch werden auch über seinen Kopf hinweg getroffen, und er lässt es geschehen, weil er zwischendurch mal den Eindruck macht, als habe er sich selbst weitgehend verloren und werde sich mehr oder minder widerstandslos treiben lassen. So einfach ist es aber nicht, denn immerhin wird er in Lilys Fall sehr energisch tätig, und auch für Jun übernimmt er immer mehr Verantwortung, auch wenn er alles dafür tut, dass es nach außen bloß nicht so aussieht. Und ehe er sich versieht, ist er fast ein Vater geworden und es gefällt ihm sogar. Bis zum nächsten Schicksalsschlag jedenfalls.

 

   Tolle Schauspieler in einem tollen Film, eine sprichwörtliche Achterbahnfahrt zwischen Grausamkeit und Zärtlichkeit, und weil Sabu seinen Helden und uns am Ende diesen optimistischen Ausblick gönnt, überwiegt in der Rückschau die Zärtlichkeit, und das ist doch mal eine Geste. Unter den Berlinalefilmen einer meiner Favoriten. (13.2.)