Neruda von Pablo Larraín. Chile/Argentinien/Spanien/Frankreich, 2014. Luis Gnecco, Gael García Bernal, Mercedes Morán, Alfredo Castro, Diego Muñoz

   Die Verfolgung des kommunistischen Dichters Ricardo Reyes alias Pablo Nerudas durch einen Schergen der faschistischen Regierung Videla kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs. Neruda flieht zunächst nach Valparaíso, schließlich über die Anden nach Argentinien und gelangt schließlich nach Europa, während sein zäher Verfolger, ein Señor namens Oscar Peluchonneau, im Schnee ums Leben kommt.

   Auf diese einfachen Sätze könnte man den Inhalt dieses Films herunterbrechen, damit aber würde man ihm kaum gerecht, denn ganz so einfach ist es natürlich nicht. Würde auch kaum zu Pablo Larraín passen, der diesen Film noch vor seinem englischsprachigen Debut „Jackie“ aus dem gleichen Jahr realisierte, und genau wie dort ein bestenfalls rudimentäres Interesse am herkömmlichen Biopic zeigt. Oder eigentlich gar keins, denn genau wie „Jacky“ zeichnet sich auch „Neruda“ durch einen ziemlich eigenwilligen Zugang zu seinem Thema aus. Er erzählt die Geschichte eben ganz und gar nicht so, wie oben suggeriert, weder linear noch objektiv noch irgendwie übersichtlich chronologisch und mit einem Anfang und einem Ende. Er erzählt genau besehen nicht mal eine Geschichte, er schnappt sich die Figur Nerudas, stellt einen fiktiven Polizisten dazu und passt das Ganze grob in ein auf Tatsachen basierendes Gerüst ein – Neruda wurde tatsächlich von der Diktatur gleich nach Videlas Machtantritt verfolgt, wurde gezwungen, unterzutauchen, floh über die Berge nach Argentinien und erreichte schließlich unter der Protektion Picassos Paris. Einige Details werden durchaus irgendwo untergebracht, der Ablauf wird in knappen Zügen umrissen, doch erhebt Larraín zu keiner Zeit den Anspruch auf eine verlässliche, historisch korrekte Chronik. Sein Film ist anders, phantasievoller, origineller, spannender und sehr viel eigenwilliger. Er verfremdet seine Darstellung konsequent durch die Off-Stimme Peluchonneaus, der mit melancholischem, bitterem Tonfall sein eigenes Scheitern kommentiert und begleitet, gleichzeitig seinen entschlossenen Hass auf die Kommunisten und seine tiefe Bewunderung für den großen Volksdichter Neruda verarbeitet. Am Schluss wandelt sich Peluchonneau zu einer fiktiven Figur, einer Kopfgeburt Nerudas, der ihn dann wieder zum Leben erweckt, sich praktisch um seine eigene Schöpfung kümmert. Dieser Kerl ist zugleich Spiegel und Labyrinth, stellvertretend für Larraíns Strategie, Aufklärung, Polemik, Satire und tiefere Ironie so lange und intensiv zu mixen, bis man das eine nicht mehr vom  andern unterscheiden kann. Perfide und genial zugleich, perfekt umgesetzt, künstlerisch eindrucksvoll und konsequent realisiert.

   Peluchonneaus Blick auf Neruda ist, so ungern wir das auch zugeben mögen, unserem sehr ähnlich. Neruda ist einerseits Volksheld, furchtloser Kämpfer für die Sache der Freiheit, der Demokratie und der Linken, entschiedener USA-Gegner und ebenso entschiedener Sovjet-Freund, ein großartiger und überwältigender Poet, eine charismatische Persönlichkeit, und andererseits ein aufgeblasener, selbstverliebter Macho, der das sogenannte Leben in vollen Zügen genießt und keinerlei Rücksichten nimmt. Flüchtig erhalten wir Einblicke in seine privaten Verhältnisse, die eher distanziert wirkende Beziehung zu seiner Ehefrau und die diversen Abenteuer, die er sich auf seinem langen Weg quer durchs Land gönnt. Peluchonneau kann nicht anders, als den Bonvivant gerade dafür zu bewundern, genau wie er den überzeugten Kommunisten verachtet. Larraíns Porträt schwankt dementsprechend zwischen Bewunderung, Respekt und deutlicher Ironie und der Einsicht, dass man den Künstler nie vom Menschen trennen kann. Gleichzeitig widmet er sich mit großem Vergnügen Nerudas Eulenspiegeleien, mit denen er seine Verfolger und Gegner immer wieder der Lächerlichkeit preisgibt, bis hin zu einem skurrilen Mummenschanz im Bordell, und sowieso ist der eigentliche Feind klar ausgemacht in Person des Diktators, Handlangers der allgegenwärtigen USA, und seiner Schergen, die bald nach ihrer Machtübernahme eine brutale Hexenjagd im Land veranstalten. Wir sehen ein Internierungslager in der Wüste, wir sehen den Aufseher, wir hören seinen Namen: Augusto Pinochet. Für einen winzigen Moment trifft uns dieser Flash Forward auf eine noch viel grausamere Zeit, die dem Land und den Menschen darin noch bevorstehen sollte. Und so verfährt Larraín die ganze Zeit: Bissiger Witz versackt unvermittelt im dunklen Abgrund, das Groteske und Bedrohliche kommen stets eng umschlungen daher, es wird viel gelacht während des Films, aber so richtig lustig ist er natürlich nicht, kann er nicht sein. Es ist ein bitterer, respektloser Witz, der auf die faschistischen Machthaber zielt, und es ist ein respektvoller, gleichwohl durchaus entlarvender Witz, der auf den Menschen Neruda zielt. Und wenn der Witz sich legt, kommt etwas anderes zum Vorschein, das uns weitaus weniger gefällt. Immer wieder setzt der Off-Monolog ein, verbreitet seine absurden Reflektionen und Interpretationen, mal pathetisch, mal einfältig, dazwischen sehen wir Neruda in seinen Kreisen in der Hauptstadt und auf der langen Irrfahrt durchs Land bis ans Meer, wo ihn Peluchonneau bald wieder aufscheuchen und schließlich in die Berge treiben wird. Und stets bleibt er auf Abstand, so, als wolle er ihn lediglich beobachten. Ein merkwürdiges Duell in Zeitlupe mit einem verbissenen Jäger und einem Gejagten, der die Situation zwischendurch regelrecht zu genießen scheint.

 

   In fahlen, rotstichigen, impressionistischen Bildern entsteht ein komplexes, faszinierendes, aber auch nicht leicht zugängliches Porträt eines Mannes, eines Landes, einer Zeit. Larraín hat den Schneid, der bildmächtigen, eindrucksvollen Sprache des Poeten eine eigene, ebenso bildmächtige und eindrucksvolle Bildsprache entgegenzusetzen, und er hat den Schneid, seine schillernde, launische, unvorhersehbare Sichtweise ohne Übersetzungshilfe an uns heranzutragen. Es kommt ja wirklich nicht so häufig vor, dass ich im Kino mal was tun muss, und dass ich auch nachher, sogar noch einen Tag danach gedanklich damit beschäftigt bin, Eindrücke und Informationen irgendwie verarbeiten und ordnen zu wollen. Das geht mir mit lateinamerikanischen Filmen aber häufiger so, dass sie sich mir nicht auf den ersten Blick erschließen. Umso bedauerlicher, dass nicht mehr von ihnen bei uns zu sehen sind… (27.2.)