Ray (Paradies) von Andrei Konchalovsky. Russland/BRD, 2016. Yuliya Vysotskaya, Christian Clauss, Philippe Duquesne, Peter Kurth, Jakob Diehl, Vera Voronkova, Viktor Sukhorukov

   Andrei Konchalovsky ist auch so einer von den vielen russischen Unbekannten. Das einzige, was man hierzulande überhaupt mal wahrgenommen hat, sind seine US-Werke, von denen ich genau eins kenne, nämlich „Runaway Train“, ansonsten muss jeder, der an russischen Filmen interessiert ist, sehen wo er bleibt. Selbst die von mir stets in höchsten in Ehren gehaltenen Kultursender schaffen da nur selten Abhilfe, also jedenfalls sind Filme dieses Regisseurs so gut wie nicht präsent für uns, was auch für die allermeisten anderen russischen Filmemacher gilt, warum auch immer. Ob sich das dann im Einzelnen lohnt, würde ich gern selbst herausfinden und entscheiden, aber so wird mir diese Entscheidung abgenommen von einem Markt, der nach wie vor gnadenlos west-orientiert ist. Tja, schade.

   „Paradies“ ist ein Film, der uns daran erinnert, dass Konchalovsky in grauer Vorzeit mal Drehbücher für Meister Tarkowski geschrieben hat, in denen es auch um Begriffe wie Paradies, Hölle, Erlösung, Hoffnung undsoweiter ging, und die sich diesen Begriffe auf ganz unterschiedlichen Wegen annäherten. Daran hat sich offensichtlich auch Konchalovsky selbst erinnert, und so setzt sich „Paradies“ offensichtlich deutlich von seinen vorherigen Produktionen ab, jedenfalls wenn man sich bei Wikipedia deren Titel und Inhalte anschaut.

   Drei Menschen im Dialog direkt in die Kamera mit einem unsicht- und –hörbaren Gesprächspartner. Gekleidet in Anstaltsgrau, könnte ein Gefängnis sein, könnte ein Hospital sein, sonstwas. Dazwischen Spielszenen, nicht chronologisch, die die Geschichte und die Verbindung dieser drei Menschen verorten, erzählen, erklären. Es ist krieg, Frankreich ist von den Deutschen besetzt, Terror, Okkupation, Widerstand. Und Kollaboration. So einer ist Jules, ein Familienvater, einer der drei Protagonisten. Der hat sich als Handlanger der Gestapo zur Verfügung gestellt, verhört und foltert „Verdächtige“, zum Beispiel solche, die angeblich jüdische Kinder versteckt haben. Eine davon ist die Russin Olga, offenbar eine Frau aus recht mondänen Kreisen, die ihre weiblichen Reize einsetzt, um mit dem Leben und ohne Qualen davonzukommen. Und um einen Mitstreiter zu retten, doch als sie erkennt, dass dieser Plan nicht aufgeht, entzieht sie sich Jules, nimmt dabei ihre unausweichliche Deportation in ein Lager im Osten in Kauf. Jules wird kurz darauf im Beisein seines Sohnes von Mitgliedern der Résistance erschossen. Nun tritt die dritte Hauptfigur auf den Plan, Helmut, ein ehrgeiziger deutscher Offizier, der ganz nach oben und der Sache mit Leib und Leben dienen will. Das versichert er auch Herrn Himmler, der ihn daraufhin mit einem „Spezialauftrag“ nach Osten schickt – er soll in den Vernichtungslagern die grassierende Korruption unter Leitung und Wachpersonal ausmerzen. Sein erster Arbeitsplatz ist ein Lager, das von Herrn Krause geleitet wird, und natürlich findet Helmut sofort zahlreiche Verstöße und Ungereimtheiten und ist entschlossen, alles aufzudecken, auch wenn Krause, ein despotisches und sadistisches Schwein, ihn fragt, ob er nicht mal alle Fünfe grade sein lassen könne, zumal die Kriegsfront nach der Niederlage von Stalingrad Stück für Stück zurück nach Westen rückt. Im Lager trifft Helmut auf Olga, jene Frau, in die er einst vor dem Krieg hoffnungslos verliebt war, der er sich aber nicht nähern konnte, weil er halt so schüchtern ist. jetzt nutzt er seine unangreifbare Position, macht sie zu seiner persönlichen Zugehfrau und will ihr zur Flucht verhelfen. Die Russen kommen aber täglich näher, die Befreiung des KZs steht bevor. Krause erschießt sich, Beweisunterlagen werden eiligst vernichtet, die letzten Juden ins Gas befördert, damit die Quote auch zum Schluss noch stimmt. Helmut organisiert die passenden Papiere für Olga, doch die nutzt sie nicht für sich selbst, sondern gibt sie einer Mitgefangenen, die zwei der einst aus Paris geretteten jüdischen Kindern in ihrer Obhut hat und die somit im Unterschied zu ihr jemanden hat, für den sie leben kann, der auf sie wartet. Olga stirbt also in der Gaskammer, und zuletzt legen alle drei ein letztes Mal Rechenschaft ab, womöglich vor einem höheren Gericht.

   Diese Rechenschaft fällt wie zu erwarten sehr unterschiedlich aus. Jules suhlt sich in Bedauern und Selbstmitleid, doch hält sich vom Kern seiner Schuld fern. Olga hat erkannt, dass sie ihr Paradies und jede Idee davon im KZ verloren hat und damit auch jeden Sinn für eine Zukunft. Und Helmut hält ungeachtet aller Realitäten an seiner Vision eines deutschen Paradieses fest. Paradoxerweise sind ihm zwischendurch durchaus seine Schuld und das Grauen bewusst, das er und seinesgleichen entfacht haben, dennoch ist er von der Sache an sich bis zuletzt überzeugt und bedauert höchstens, dass kommende Generationen diesen Weg wohl nicht weiter gehen werden, weil zuviel Blut dafür vergossen wurde.

   In strengem, sprödem Schwarzweiß gedreht, ohne stringente Dramaturgie und ohne die genreüblichen Effektzutaten, entwickelt der Film dennoch eine beträchtliche Dichte und Intensität. Die Interviews sind dabei ebenso spannend wie die Spielszenen, sie verraten auf ihre Weise genauso viel über die Hauptpersonen wie ihre tatsächlichen Taten. Das Zaudern und Zögern von Jules, die resignierte, hoffnungslose Selbstanalyse Olgas oder Helmuts Schwanken zwischen glühendem Nazieifer und kurzen Momenten der Einsicht. Drei Kriegsschicksale, jedes für sich einzig und dennoch in vieler Hinsicht auch repräsentativ. Die inhaltliche Verknüpfung dieser Schicksale grenzt scharf an Kolportage, doch davor schreckte Konchalovsky ja noch nie zurück, und die bezwingende Ernsthaftigkeit seiner Inszenierung fängt andererseits alles wieder auf. Mich hat vor allem beeindruckt, wie er einerseits ganz offensichtlich auf jeden Ausstattungsaufwand verzichten und dennoch maximale Wirkung erzielen kann. Die ganze furchtbare Barbarei der Nazis mitsamt der furchtbaren Auswirkungen auf die Opfer (und in gewisser Weise auch die Täter und Mittäter) wird in den bedrückenden Lagerszenen einmal mehr deutlich. Olga spürt es irgendwann an sich, in sich und sie gibt es im Interview zu Protokoll: All das, was dich früher als Menschen ausgezeichnet hat, geht verloren, wird systematisch und vorsätzlich ausgelöscht. Du existierst nur noch und dein ganzes Denken und Streben geht danach, irgendwie zu überleben, und niemals hättest du dir träumen lassen, wie weit du zu gehen bereit bist, um deine klägliche kleine Existenz zu retten. Diese von den Nazis programmatisch angestrebte Entmenschlichung und ultimative Erniedrigung ist es schließlich, die sie dazu bringt, auf ihre Rettung zu verzichten und lieber diejenigen in Sicherheit zu wissen, die wirklich eine Zukunft haben, eine Aufgabe, einen Sinn. Nicht weniger vielsagend sind dagegen Helmuts Aussagen. Anders als Olga scheint er nichts an Sicherheit und Klarheit eingebüßt zu haben. Während sie zusammengekauert hockt und selten in die Kamera blickt und nur zögernd spricht, sitzt er aufrecht mit klarem Blick und spult seine Phrasen mit verblüffender Überzeugung ab. Interessant und vermutlich äußerst charakteristisch ist dabei, dass er sich gegen das Leid seiner Opfer abzuschotten scheint, denn er spricht niemals darüber, sondert höchstens einen nichtssagenden Allgemeinplatz dazu ab. Er hat seine gesamte Existenz einer Mission verschrieben, die ein deutsches Paradies anstrebt und zum Erreichen dieses Ziels eben leider auch unpopuläre Maßnahmen in Kauf nehmen muss. Wir sehen hier eine weitere Variante der Banalität des Bösen mit genau der gleichen Fertigkeit, Schuld und Gewissensqualen von sich fern zu halten und sich lediglich als Teil eines Ganzen zu sehen ohne individuelle Schuld. Eine komplexe, vielschichtige, eindrucksvoll realisk, ierte Täter-Opfer-Konstellation, die man so im Kino auch noch nicht gesehen hat.

 

   So ist ein schwieriges, in Teilen sperriges Psychogramm entstanden, sowohl in der Inszenierung als auch den Darstellungen hervorragend, und, tja, das sag ich wohl jedes Mal, es würde sich mit Sicherheit sehr lohnen, dem russischen Kino hierzulande mehr Raum zu widmen, denn die haben auch eine Menge zu sagen und die haben auch die Leute, die das können. Wäre schon schön, wenn wir den Blick auch mal kontinuierlicher gen Osten richten könnten, statt immer nur die wenigen auf Festivals dekorierten und exponierten Werke zu würdigen. (8.8.)