Hikari (Radiance) von Naomi Kawase. Japan/Frankreich, 2017. Ayame Misaki, Masatoshi Nagase, Tatsuya Fuji, Kazuko Shirakawa, Kanno Misuzu, Noémie Nakai
Naomi Kawase macht Filme über die Sinne und für die Sinne. Solche Filme sieht man nur selten in Europa, sie wirken fremd, für manche vielleicht befremdlich, für andere vielleicht auch kitschig, pathetisch, langatmig, prätentiös oder was noch alles. Sie haben mir unserer westlichen (Film-) Kultur angenehm wenig zu tun, sie kommen aus einer anderen Zivilisation und beziehen sich auch auf sie, ohne dabei zu sperrig und unzugänglich zu sein, so wie man es bei manch anderem japanischen Filmemacher vielleicht schon erlebt hat. Ihr jetzt daraus wiederum einen Strick zu drehen und ihr möglicherweise Gefälligkeit oder Anbiederung an abendländische Erwartungen vorzuwerfen, finde ich ebenso paradox wie absurd – aber ist auch wurscht. Ich geb zu, dass mir „Kirschblüten und rote Bohnen“ auch einen Tick zu wohlfühlverdächtig rüberkam, aber immer noch auf der richtigen Seite, und die Filme davor (also „Wald der Trauer“ und „Still the water“) waren sowieso Meisterstücke, sofern sie denn überhaupt bei uns zu sehen waren.
In „Radiance“ geht es mal wieder um die Sinne in der ursprünglichsten Bedeutung. Sehen, Hören, Fühlen. Ein Fotograf verliert sein Augenlicht. Eine junge Frau verfasst Audiodeskriptionstexte für ein Filmdrama und stellt ihn in seinen jeweils veränderten Fassungen einer sehr kritischen Gruppe blinder Menschen vor. Der Fotograf ist auch in der Gruppe und geht die junge Autorin besonders hart an. Trotzdem begegnen sie sich immer wieder und kommen sich näher. Herr Nakamori macht seine letzten Bilder mit einer Art trotziger Verzweiflung, stolpert ansonsten durch die Stadt und durchlebt einige sehr demütigende Momente. Das Mädchen Misako ist aber auch im Begriff, etwas zu verlieren – draußen in einem kleinen Dorf wohnt ihre Mutter und ist im Begriff zu sterben. Sie ist bereits dement, weit weg, für Misako nicht mehr erreichbar. Nakamori lässt sich von Misako zu einem Ort führen, an dem man den schönsten Sonnenuntergang erlebt. Sie küssen sich, doch eine richtige Liebesgeschichte wird nicht entwickelt. Nakamori schickt Misako sein letztes Foto, auf dem sie zu sehen ist. Sie erlebt die Premiere des Films mit ihrem Begleittext, und auch die, die sie zuvor arg kritisiert hatten, sind nun gerührt. Misakos Mutter läuft fort, und Misako findet sie nach langer Suche auf einem Fels stehend. Sie erinnert sich an ihre Zeit als Kind.
Ich hatte zuvor eine recht unfreundliche Rezension gelesen, in der von Banalität und Klischees die Rede war, kann nun aber guten Gewissens sagen, dass das für meine Wenigkeit auf keinen Fall zutrifft. Ich merkte schon, dass ich mich erstmal wieder auf ein anderes Tempo, andere Themen, andere Mentalitäten einlassen musste, doch sobald das geschafft war, konnte ich „Radiance“ aus vollen Zügen genießen, ohne mich allzu sehr anstrengen zu müssen, hinter irgendeinen tieferen Sinn zu kommen. Kawase gelingt es, eine einerseits ganz im Hier und Jetzt und der Moderne angesiedelte Geschichte zu erzählen, und doch immer wieder Momente der Zeitlosigkeit, der Entrücktheit, der puren Kontemplation zu schaffen, und genau das unterscheidet Filme wie diesen in erster Linie von den westlichen Artgenossen. Im Zentrum steht wohl die Frage, wie wir unsere Welt wahrnehmen, welche Kanäle sind wichtig, welche sind aber zugleich offen genug und was geschieht, wenn uns einer dieser Kanäle plötzlich nicht mehr zur Verfügung steht. Was Herrn Nakamori angeht, macht Kawase nicht mal ein großes Drama daraus, zeigt seine Verbitterung, seinen zunehmenden Rückzug von den Mitmenschen, doch ist er als älterer Mann mit genügend Lebenserfahrung im Gegensatz zu dem Mädchen Misako reflektiert genug, um Situationen und Konsequenzen überschauen zu können. Wenn Misako ihn etwas gedankenlos von irgendwo abholen will, ruft er ihr zu, nein, bleib oben stehen, ich komme zu dir, ich bin noch nicht so hilflos. Noch augenfälliger wird ihre Unsicherheit und Geschicklichkeit im Zusammenhang mit ihrer Audiodeskription, bei der sie einfach nicht den richtigen Ton treffen will. Mal bleibt sie zu vage, überfordert die Vorstellungskraft bzw. inspiriert sie zu wenig, mal bevormundet sie ihrer Hörer, diktiert ihnen Empfindungen und Interpretationen, einfach weil sie kein Vertrauen in ihre Instinkte hat. Mit Tränen in den Augen quittiert sie dann die detaillierte und ziemlich unverblümte Kritik, wohl verstehend, dass es um ihre Person im Ganzen geht, die noch viel an sich arbeiten muss. Genau das ist es, was sie lernen wird und muss und was Nakamori ihr sicherlich ein Stück weit zeigen kann, während sie ihn ihrerseits davor bewahren wird, ganz aus dem Leben zu verschwinden. Erst im Kontakt mit ihm und wohl stärker noch mit ihrer verwirrten, sterbenden Mutter beginnt sie, auf ihr Inneres zu hören, darüber nachzudenken, woher sie kommt, was sie prägt und bewegt und was sie vor allem damit anfangen kann.
So gesehen steht für mich die Liebesgeschichte nicht mal im Vordergrund des Films. Er geht für mein Empfinden viel mehr in eine philosophische Richtung, berührt die Dinge des Lebens allgemein. Kawase macht so einige Fässer auf, was man ihr vielleicht zu Recht vorwerfen könnte, und natürlich wird keines dieser Themen dann erschöpfend ausformuliert. Mich hat das in diesem Fall nicht gestört, ich fand das im Rahmen der Konzeption ziemlich konsequent und richtig. Dies ist eher eine Meditation, intuitiv, manchmal etwas sprunghaft, auch nie so recht vorhersehbar und vor allem nicht mit einem runden, sämtliche Fragen klärenden Schluss. „Radiance“ fängt Augenblicke ein, Stimmungen, Farben, Laute, was mir ja auch schon im „Wald der Trauer“ so gut gefallen hat. Wer stringent konstruierte, dramaturgisch komplett ausgefeilte und durchdachte Drehbücher erwartet, der ist hier einfach nicht richtig. Hier muss ich die Bereitschaft haben, mich selbst auch mal etwas treiben zu lassen und nicht alles und jedes zu durchdenken oder zu hinterfragen. Wenn mir das gelingt, ist ein Film wie dieser immer eine besondere und leider seltene Erfahrung. Er ist wunderbar gefilmt und gespielt, mit sehr viel Gefühl und Poesie, und das ist etwas, was ich auch mal nur genießen kann. Und was mich natürlich hoffen lässt, dass auch weiterhin ab und zu mal ein solch wunderschönes Werk zu uns ins Kino kommt… (19.9.)