Simpel von Markus Goller. BRD, 2017. David Kross, Frederick Lau, Emilia Schüle, Axel Stein, Devid Striesow, Annette Frier, Claudia Mehnert, Anneke Kim Sarnau
Barnabas hat während seiner Geburt zu lange zu wenig Sauerstoff gekriegt und heißt seitdem Simpel, auch noch mit Ende Zwanzig. Sein jüngerer Bruder heißt Ben und kümmert sich um ihn, weil der Vater irgendwann abgehauen ist und in Hamburg eine neue Familie aufgemacht hat und die Mutter mit Krebs im Endstadium liegt. Sie leben draußen am Deich irgendwo hinter Jever, und die Behörden haben schon länger ein Auge auf sie. Als die Mutter schließlich gestorben ist und der Vater sich geweigert hat, Ben eine Vollmacht für Simpel auszustellen, sehen sie ihre Stunde gekommen, und schon bald rückt eine grüne Minna an, um Simpel in eine „nette“ Einrichtung abzuholen. Doch das lassen die Jungs nicht mit sich machen, Ben kickt den Fahrer und den Anstaltsvertreter kurzerhand aus dem Bulli und die beiden rauschen ab, und nach einigen Irrungen landen die beiden schließlich im Auto von Aria und ihrem Kollegen Enzo, die gerade als Sanitäter ein Konzert begleitet haben und nun auf dem Rückweg nach Hamburg sind, wo sie in einem Krankenhaus arbeiten. Ben möchte mit Simpel einfach nur ausrücken, auf ein Schiff und dann rund um die Welt, doch über Hamburg kommen sie nicht hinaus, weil es zwar einen vagen Plan gibt, aber keinerlei Mittel, um ihn zu verwirklichen. Die Brüder kommen kurzfristig bei Aria auf dem Sofa unter, und Ben kontaktiert den Vater, der sich aber weiterhin nicht bereit erklärt, Ben die notwendige Vollmacht zu geben, weil er findet, dass sein Sohn endlich sein eigenes Leben in die Hand nehmen soll und Simpel am besten in einer Einrichtung aufgehoben ist. Ein paar mehr oder weniger dramatische und turbulente Zwischenfälle später ist Ben dann endlich auch soweit einzusehen, dass er allein auf Dauer die Verantwortung nicht tragen kann, und so liefert er seinen Bruder dann doch noch in einem Haus ab, wo man sich um ihn kümmern wird, und wo er vor allem schon ein nettes Mädchen vom Spielplatz und dem Hamburger Dom kennt. Ben muss dann zu den Bullen ins Auto steigen, denn er wird wegen Körperverletzung gesucht, doch der kleine Abschiedskuss zwischen ihm und Aria sagt uns schon, dass da wohl was geht…
Noch’n Behindertenfilm, ist klar, aber ganz und gar keines jener unerfreulichen Machwerke, die Behinderung nur als Beiwerk bzw. willkommenes Instrument zur Hebung des Wohlfühlfaktors missbrauchen. Natürlich geht’s auch um viel Gefühl, aber daran ist nix falsch, solange es sich echt anfühlt, und das tut es in diesem Fall, auf jedenfalls für mich. Ich finde „Simpel“ ganz wunderbar, sehr schön und auf beste Weise anrührend, weil er eben sehr viele unterschiedliche Nuancen vereint und zu einem sehr stimmigen und überzeugenden Ganzen fügt. Sehr gefallen hat mir schon mal, dass es keine großspurigen Appelle an die Gesellschaft zum Umgang mit ihren Behinderten gibt, überhaupt kein Pathos oder keine plakativen Botschaften, der Rahmen bleibt sehr privat, es geht hier um ein Einzelschicksal, das nicht beispielgebend für irgendwelche Verhältnisse oder Missstände dastehen soll. So können wir uns ganz konsequent und ganz ausschließlich Simpel und Ben widmen, oder anders ausgedrückt, Ben und Simpel. Und da gibt es durchaus eine Menge zu erfahren und zu sagen. Die enge Beziehung der Brüder ist an der Oberfläche sicherlich rührend, und Bens Aufopfern für den großen kleinen Bruder bewundernswert, doch früher oder später kommt eine andere mögliche Sichtweise ins Spiel und wird in der Folge mehr und mehr an Gewicht gewinnen. Der Vater David mag zwar in vieler Hinsicht ein Arsch sein, und wie er seinen ältesten Sohn Barnabas von sich stößt, ist durchaus schockierend, doch hat er andererseits auch ein klein wenig recht, wenn er Ben klarzumachen versucht, dass der nicht immer nur seines Bruders Hüter sein kann, sondern endlich auch mal was für sich tun muss. Und nachdem Arias Bude beinahe abgefackelt und Simpel ernsthaft zu Schaden gekommen wäre, weil Ben ihn viel zu lange in der Wohnung alleingelassen hat, beginnt auch sie, ihn ernsthaft zu drängen, die Verantwortung abzugeben, bevor noch Schlimmeres passiert. Man versteht dann auch, dass Ben vermutlich Angst hat, das zu tun, eben weil er sich dann einer ganz eigenen Zukunft stellen muss, denn das Leben mit Simpel, so entbehrungsreich es für ihn auch gewesen sein mag, hatte den einen Vorteil, dass er sich immer hinter seiner Aufgabe verstecken konnte. Bens und Simpels Erlebnisse auf der Fahrt nach Hamburg und schließlich in der Großstadt selbst sind zum Teil sehr amüsant und skurril, bergen aber dennoch vielfach einen sehr ernsten Kern in sich, und der Regie gelingt es ausgezeichnet, diese Ernsthaftigkeit mitschwingen zu lassen, ohne dass sie allzu dominant wird. Andererseits wird eben auch nicht leichtfertig mit der Figur Simpel umgegangen, er ist kein netter Knuddelbär, kein Objekt für unser wohlfeiles Mitleid, und erst recht gibt’s keine Gags auf seine Kosten. Die Spannung entsteht dort, wo Ben sich weigert, von seiner Rolle zurückzutreten und seinen Bruder damit mehrfach in Gefahr bringt, obwohl er natürlich nur das Beste für ihn will. Im Mittelpunkt steht gegen Ende primär sein innerer Kampf mit der Situation, und der Film verhehlt nicht, dass dies auch durchaus auf Simpels Kosten abläuft. All das ist ziemlich weit entfernt von irgendeiner Sorte Behindertenromantik, und ich hatte auch nie den Eindruck, dass Drehbuch und Regie damit liebäugeln wollten, auch nicht in den etwas burleskeren Augenblicken wie beispielsweise im Puff auf der Reeperbahn.
Ein Film für’s Herz (oder das, was Männer an der Stelle haben…), und daran haben die Schauspieler maßgeblichen Anteil. Vor allem David Kross und Frederick Lau spielen phänomenal zusammen, bringen eine Intensität auf die Leinwand, die mich sehr beeindruckt hat und die vor allem dafür gesorgt hat, dass sich die Geschichte “echt“ anfühlt und nicht nur „gut gemacht“. Leute wie Kross und Striesow habe ich jetzt schon länger nicht mehr im Kino gesehen und war sehr froh, dass es endlich mal wieder soweit war, und Frederick Lau, der im Vergleich deutlich präsenter ist, hat mich wieder daran erinnert, weshalb ich ihn so gerne sehe. Emilia Schüle ist gleichfalls klasse in ihrer Rolle der Aria, die zunehmend daran geht, Bens Situation zu bearbeiten, ihn genau dahin zu drängen, wohin er lieber nicht will, und die seinen fieberhaften Einsatz immer wieder wohltuend praktisch erdet. Die Chemie zwischen diesen Leuten stimmt einfach perfekt, und es hat mir sehr viel Saß gemacht, ihnen zuzusehen. Für mich ein gar nicht eingeplantes, dafür umso erfreulicheres Highlight im Kinoherbst. (22.11.)