Sommerhäuser von Sonja Maria Kröner. BRD, 2017. Laura Tonke, Thomas Loibl, Ursula Werner, Emilia Pieske, Elliot Schulte, Günther Maria Halmer, Mavie Hörbiger, Anne-Marie Weisz, Christine Schorn, Inge Maux, Jonathan Bär
1976 war, was man immer einen „Jahrhundertsommer“ nennt – also brüllend heiß mit vielen Wespen und kräftigen Gewittern. 1976 räumte die DDR bei den Olympischen Spielen in Montreal einen ganzen Arschvoll Medaillen ab und setzte bei dem einen oder anderen Wessi doch mal Wiedervereinigungsträume frei. 1976 hingen noch Wahlplakate mit Helmut Schmidt am Straßenrand. 1976 wurde ein Kindermörder dingfest gemacht, der viele Jahre sein schlimmes Unwesen getrieben hatte. 1976 war so ein Jahr, in dem die Männer Adidasturnhosen tragen mussten, die kurz unterm Hintern aufhörten, und in dem Frauen Jeansminiröcke tragen mussten, die auch kurz unterm Hintern aufhörten. Und weil die Frauen damals schon oder noch genauso benachteiligt waren wie heute, mussten die zusätzlich auf Sandalen mit meterhohen Korksohlen laufen. Okay, und die Männer mussten gelbe oder orange Autos fahren. Es war also gar nicht so leicht, 1976 zu leben, daran erinnere ich mich auch noch von fern.
1976 geschieht es auch, dass die Familie wie jedes Jahr während der großen Ferien in den Sommerhäusern zusammenkommt. Die liegen verteilt auf dem großen Grundstück von Oma Sophie draußen im Grünen, dort gibt’s Wiesen und Bäume und ein tolles Baumhaus und Planschbecken und überhaupt alles, was man für den Sommer so braucht. Die Oma ist just gestorben, und so steht ihr Haus nun leer, und zu allem Überfluss hat ein Blitz einen Baum gefällt und direkt ins Haus krachen lassen. Es bleiben: Ihre drei Kinder, zwei Enkelkinder (der eine verheiratet mit zwei Kindern, die andere mal wieder Single mit einem Mädchen) und drei Urenkel. An der Oberfläche läuft alles mehr oder weniger ab wie immer, nur ohne Oma Sophie: Man trifft sich bei Kaffee und Kuchen oder abends auf irgendeiner Terrasse, die Kinder toben rum: Lorenz, der ältere, hat seinen Kumpel Frank dabei, und weil die schon zwölf sind, dürfen sie auch aufs Baumhaus. Lorenz‘ kleine Schwester Janas darf noch nicht und tut also, was kleine Schwestern mit Vorliebe tun, sie rennt den Großen überall hin nach und nervt sie. Die Kusine Inga ist auch dabei, aber die ist auch noch zu klein. Bei den Erwachsenen aber stimmt was nicht: Es geht um die Frage, ob das Grundstück verkauft werden soll und wer zu welchen Anteilen das Geld kriegt. Sophies Kind sind sich schon uneins und die Enkel erst recht. Bernd und seine Schwester Gitti sind sich nicht wirklich grün, aber Bernds Frau Eva und Gitti, das geht erst recht nicht, das ist Zickenkrieg pur. Dazwischen die Kinder, die alles nur so halb mitkriegen und die Alten, die sich wundern, weswegen man sich darüber nur so aufregen kann. Bernd bringt’s nicht fertig, einmal klar Tisch zu machen und seinen Anspruch auf ein Erbteil anzumelden, Eva ist deswegen mal wieder sauer, und Gitti, die mehr mit ihren Männergeschichten beschäftigt ist, beschränkt sich darauf, so zu tun, als ob ihr hier sowieso alles gehört. Dann verschwindet in der Gegend ein kleines Mädchen und wird kurz darauf verstümmelt und ermordet aufgefunden, und sofort schlägt sich das zusätzlich auf die Stimmung, die schnell ins Hysterische kippt. Ein dringend überfälliges Sommergewitter bringt auch keine Reinigung, im Gegenteil, es geschieht ein tragischer Unfall, der womöglich das Ende der Sommerhausidylle bedeuten könnte.
Ein meisterliches Ensemblestück, ein Familiendrama, das über weite Strecken so täuschend undramatisch daherkommt und dabei beträchtliches Dramapotential unter der Oberfläche offenbart. Diese Oberfläche ist zunächst verlockend, auf beruhigende Weise bekannt und alltäglich: Der träge, heiße Sommer, das Insektengeschwirr, das leise Rascheln der Blätter, die Flucht in den Schatten, die langen, warmen Abende und Nächte. Doch schon die anfängliche Autofahrt mit Bernd und Eva und den Kindern macht uns klar, dass hier keine unbeschwerte Nostalgietour auf uns wartet, sondern schon ein anderes Kaliber. Bernd und Eva, das sind Mann und Frau comme il faut: „Nun sag doch auch mal was!“, oder „Typisch, dich regt auch gar nichts auf!“ oder „Nun geh endlich hin und sprich mit deinem Vater, sonst stehen wir wie immer da und kriegen gar nichts!“ Sätze, die uns allzu bekannt in den Ohren klingeln. Eva und Gitti gehen nach anfänglichen Sticheleien und kleinen Gehässigkeiten nebenbei schließlich ganz direkt aufeinander los, da hat sich offenbar in vielen Jahren schwer was aufgestaut, und Bernd steht wie jeder Mann dumm und hilflos daneben und hat keinen Schimmer, wie er mit dem Schlamassel umgehen soll, am liebsten würde er natürlich wie jeder Mann gar nicht damit umgehen. So versucht er verzweifelt, nach allen Seiten die Wogen zu glätten, zu beschwichtigen, zwischen der etwas biederen Eva und der höchst kapriziösen Gitti zu vermitteln, mit dem unweigerlichen Resultat, dass seine Eva noch saurer auf ihn ist. Kennt man(n), gelt… Aber auch sonst ist der Film randvoll mit vielen kleinen fiesen Szenen, angedeuteten Dialogen, missverständlichen Augenblicken, die so realistisch sind, dass sie wirklich Unbehagen hervorrufen, und dazwischen verfällt dann alles auch wieder in kurzfristige Sommerlethargie und wir haben vorübergehend Anteil an den Kinderspielen. Gelegentlich bricht sich die Disharmonie auch mal offensichtlicher ihre Bahn, wenn Gitti beispielsweise eine peinlich verkorkte Geburtsfeier für ihre Inga organisiert und selbst zum Opfer ihrer Lügen und Versprechungen der Tochter gegenüber wird, oder wenn sie sich ihrem Neffen gegenüber mal so richtig im Ton vergreift und Eva prompt die Chance nutzt und mit schwerem Geschütz zurückfeuert. Ingas Sturz vom Baumhaus schließlich beendet diese Scharmützel jäh, beendet die Geschichte insgesamt, denn es wird nichts mehr weiter erzählt, es wird lediglich das Baumhaus abgebaut, und alle stehen tief betroffen drum herum.
Die Erzählperspektive scheint nie ganz gesichert zu sein – oft ist es der Blick der Kinder, der uns diese Welt zeigt, eine Welt, die einerseits Sicherheit und Geborgenheit bietet, die andererseits aber reich an rätselhaft dunklen Tönen ist. Dir Erwachsenen inszenieren diese Routine durchaus bewusst, auch zur eigenen Beruhigung, doch auch sie können die Abgründe nicht ignorieren, werden sich mit ihnen auseinandersetzen müssen. Und werden zudem einen Weg finden müssen, mit ihren Kindern darüber zu sprechen. Der gruselige Mörder, der irgendwo da draußen sein Unheil treibt, gehört ebenso dazu, wie die großen und kleinen Konflikte, die innerhalb der Familie schwelen und früher oder später aufbrechen und bearbeitet werden müssen. All das steckt in diesem Film, und wer wie ich hauptsächlich in den 70ern groß wurde, wird vieles, allzu vieles wiedererkennen, doch dienen diesmal die Ausstattungsstücke nicht dem wohligen Wiedererkennen, jedenfalls nicht nur. Der Blick verweilt kurz auf ihnen, registriert sie, um sich gleich darauf wieder anderen und oft weniger erfreulichen Dingen zuzuwenden, die Kamera schaut dezent, fast unbeteiligt und dennoch hoch konzentriert zu, die Bilder wirken ohne Musik, ohne irgendwelchen Firlefanz. Der Humor ist unscheinbar, fast ein bisschen bissig, die Atmosphäre des Sommergartens von überwältigender Präsenz und das Ensemble bis in die kleinste Rolle grandios, auch oder gerade die Kinder. Ein Film ohne Pathos, ohne Prätention, ohne jeden technischen oder dramaturgischen Schnickschnack und sicherlich einer der bemerkenswertesten deutschen Filme der letzten Jahre. So fröstelig real waren die 70er für meine Begriffe jedenfalls noch nie…(30.10.)