The killing of a sacred deer von Giorgos Lanthimos. England/Irland, 2017. Colin Farrell, Nicole Kidman, Barry Keoghan, Raffey Cassidy, Sunny Suljic, Alicia Silverstone
Vor ein paar Jahren hab ich “Dogtooth” gesehen, einen früheren Film aus Griechenland von Giorgos Lanthimos, und daher war ich ungefähr vorbereitet. Eine absurde, dunkle, bizarre Familien- und Gesellschaftsphantasie, die vor allem durch ihre Verzerrungen die Dinge umso deutlicher macht. Eine einzigartige Parabel über Moralnormen, Sprache, Sexualität, Tyrannei, und gerade das Suggestive, Universelle lässt den Film so spannend wirken.
„The killing“ scheint in vielem eine Fortsetzung oder meinetwegen ein mitteleuropäisches Remake zu sein, eine Variation, teilweise auch eine Weiterführung. Wieder hat dieser Film zahlreiche Zuschauer ratlos und verstört zurückgelassen, und dennoch war deutlich zu spüren, dass er sie über zwei lange Stunden hinweg jederzeit voll im Griff hatte. Das können auch nicht alle.
Irgendeine amerikanische Mittelklassestadt, egal welche. Dort lebt im schicken Vorort im schicken Anwesen die schicke Familie Murphy. Das sind Papa Steven, ein angesehener Chirurg, Mama Anna, eine nicht minder erfolgreiche Augenärztin, Tochter Kim, gerade frisch in der Pubertät angekommen, und Sohn Bob, der kleine Bruder halt. Alles geht scheinbar seinen Gang, Mon & Dad gehen zur Arbeit, die Kids zur Schule, es gibt den alltäglichen Zank, die ganz normalen Szenen wie in jeder Familie. Daddy hat vielleicht etwas eigenartige sexuelle Vorlieben, doch Mom macht alles gern mit, und alle sind an der Oberfläche glücklich und zufrieden. Daddy hat aber auch ein Geheimnis, das heißt Martin und ist ein sechzehnjähriger Junge, dessen Vater vor einigen Jahren auf Stevens OP-Tisch verstarb. Die Treffen der beiden verlaufen zunächst noch recht unverfänglich, werden dann aber thematisch immer privater, und bald schon fühlt Steven sich ein wenig unbehaglich und bedrängt. Martin fordert immer mehr Zeit und Raum, bändelt auch noch mit Kim an, wovon ihre Eltern gar nichts mitbekommen, und Steven mag sich dem zunächst nicht entziehen, weil der Junge ihm offenkundig leid tut, doch als Martin den Versuch unternimmt, ihn mit seiner Mutter zu verkuppeln, muss er doch mal eine Grenze ziehen. Kurz darauf fällt Bob ganz plötzlich einfach zu Boden und kann fortan nicht mehr gehen. Keine Diagnostik kommt hinter das Geheimnis, erst Martin klärt Steven auf: Bob, Kim und auch Anna werden nacheinander krank werden. Zunächst werden sie nicht mehr gehen können, danach werden sie nichts mehr essen und trinken, schließlich werden sie aus den Augen bluten und kurz darauf sterben. Es sei denn, Steven tötet zuvor einen dieser drei, so wie er einst Martins Vater tötete – so jedenfalls sieht es der Junge. Steven versucht verzweifelt, den Wettlauf mit der Zeit zu gewinnen, doch als auch Kim die ersten Symptome zeigt, wird die Situation immer übler, und schließlich sagt er Anna die Wahrheit, und am Ende muss dann eine Entscheidung getroffen werden…
Manchmal musste ich ein bisschen an Michael Hanekes Anti-Bürger-Attacken denken, doch scheint mir Lathimos noch hintergründiger und geschickter vorzugehen. Er präsentiert eine nach außen intakte, glänzende Wohlstandsfassade und führt dann hübsch langsam klitzekleine Irritationen ein, merkwürdige Umgangsformen, abstruse Gespräche, und irgendwann spürt man dann, so ganz mit rechten Dingen geht’s hier nicht zu, nur lässt sich nicht genau sagen, was es eigentlich ist. Eine Art von Degeneriertheit, Übergriffigkeit ist zu beobachten, die Menschen haben eine mechanische Aura, scheinen nicht wirklich am Leben zu sein. Dazu passen die fast steril klaren, sauberen Bilder und Interieurs, die auch dann noch dominieren, als diese Welt Stück für Stück in ihre Einzelteile zerbröckelt. Martin ist zweifellos ein Teufel mit unschuldigen, glatten Augen, doch auch Steven ist weit davon entfernt, ein vorbildlicher Ehemann und Vater zu sein. Sein Dilemma ist abstrakt betrachtet schrecklich, doch sorgt Lathimos sehr gründlich dafür, dass ich irgendwie nicht mit ihm fühle, auch nicht mit der undurchsichtigen, maskenhaften Anna (für die Nicole Kidman die ideale Verkörperung ist), eher schon mit Kim und Bob, die in jeder Hinsicht zu Opfern werden. Der grausame und dramatisch spannende Moment der Entscheidung, in dem Steven seine drei Familienmitglieder einer Art chaotischem russischem Roulette aussetzt, mündet in eine geisterhaft kühle und stille Abschlussszene, in der die drei überlebenden Murphys ihren Peiniger im Diner treffen und wortlos Blicke messen, bevor sie dann mit ihrem Leben weitermachen. Das kalte Unbehagen dieses Moments hängt uns buchstäblich in den Knochen, wenn wir den Saal räumen, und dieses Unbehagen steht für die grundlegende Unsicherheit, wie wir uns nun zu dem Gesehenen verhalten sollen. Lathimos bleibt da vollkommen unbewegt, macht keinen einzigen Schritt auf uns zu, lässt uns allein mit äußerst zwiespältigen Gefühlen. Ich habe hier einen Horrorfilm mit deutlich gesellschaftskritischen Untertönen vor mir, eine äußerst schroffe anti-bürgerliche Satire, die mal mir durchaus grobem Werkzeug zur Tat schreitet, sehr häufig aber auch viele kleine subtile Details enthält, die uns konsequent verunsichern, irritieren, vor den Kopf stoßen, manchmal auch amüsieren. Der Humor ist sarkastisch, die Regie bleibt deutlich auf Distanz. Moralische und sexuelle Entgleisungen bedingen einander, ganz wie schon in „Dogtooth“, es herrscht eine gewisse emotionale Kälte, die natürlich vor den Underdogs nicht haltmacht, denn der perverse Stalker Martin scheint seinerseits zu keiner einzigen nachvollziehbar menschlichen Regung fähig zu sein. Eine Eskalation roher Gewalt droht mehrmals, Steven scheint zu allem entschlossen, seine Familie zu retten und Martin erträgt Schläge und Gefangenschaft ebenso stoisch, wie er sich Kims wie einer Beute bemächtigt und seinen perfiden Racheplan unerbittlich durchzieht.
Auf seine abgründig fiese Art ist dieser Film perfekt gemacht, keine Frage. Die Bilder und die Menschen darin sind sorgsam komponiert, die zwischenzeitlichen Musikattacken zerren an den Nerven und das unberechenbare und mitunter bizarre Verhalten der Personen lässt uns Schlimmstes befürchten, ganz wie in einem alten B-Movie aus den 70ern. Wir wissen nur zu genau, dass wir einem Prozess ausgeliefert sind, der mit monströser Konsequenz abspult und bis zum sprichwörtlich bitteren Ende laufen wird. Es ist wirklich wie bei Haneke: Ich bewundere den Regisseur und Gestalter für seine bestechende Vision und ihre ebenso perfekte Umsetzung. Nur ein zweites Mal möchte ich den Film vermutlich nicht sehen. (28.12.)