303 von Hans Weingartner. BRD, 2017. Mala Emde, Anton Spieker

   Boy meets Girl – seit jeher das eine große Thema im Kino. Und: Kriegen sie sich am Schluss – seit jeher die eine große Frage, deren Antwort wir zwar fast immer schon im Voraus kennen, deren Auflösung wir jedoch immer wieder lustvoll erwarten – wenn der Film gut ist, das heißt, wenn er es schafft, uns wirklich für die Personen und ihre Geschichte zu interessieren. Im Wohlfühlzeitalter, das uns nun seit vielen Jahren schon beherrscht, ist das eine echte Seltenheit geworden, und umso glücklicher bin ich, wenn da mal ein Film daherkommt, der sich von all dem Zuckerballast freimacht und einfach eine schöne Liebesgeschichte erzählt.

   „303“ hat mich restlos glücklich gemacht. Der schönste deutsche Film seit Ewigkeiten, die schönste Liebesgeschichte seit Ewigkeiten, und höchstens Richard Linklaters Filme über Jesse und Celine haben bei mir während des Zusehens eine vergleichbare Bezauberung ausgelöst, weil sie ein ähnliches Gefühl transportieren, das Gefühl von Freiheit und Echtheit, Spontaneität und Zärtlichkeit, so ungefähr jedenfalls.

   Jan meets Jule. Auf einer Raststätte an der Autobahn. Jule ist unterwegs in einem großen alten Mercedes-Wohnmobil vom Typ 303. Sie hat gerade ihre Uniprüfung versemmelt, aber eigentlich ganz andere Sorgen, denn sie ist schwanger und ihr Freund lebt zurzeit weit weg in einer WG in Portugal, wo er an seinem Abschluss werkelt, sich aber eigentlich eher der freien Liebe hingibt. Und jetzt will sie von Berlin aus zu ihm fahren, um ihm die Neuigkeit zu überbringen. Jan, der gerade mit seinem Stipendiatsantrag gescheitert ist, sucht hingegen eine Mitfahrgelegenheit nach Nordspanien in die Gegend um Bilbao. Dort lebt sein leiblicher Vater, ein kurzer Urlaubsseitensprung der Frau Mama, von dessen Existenz er erst seit wenigen Jahren weiß und den er nun zum ersten Mal sehen will, zumal er mit seinem Stiefvater überhaupt nicht klarkommt. Jule willigt ein, ihn mitzunehmen bis nach Köln, wo er einen Bus nach Spanien nehmen will. Nach kurzer gemeinsamer Fahrt allerdings setzt sie ihn schon wieder an die Luft, weil er im Eifer des Gefechts ein bisschen viel geschwätzt und einen ganz wunden Punkt bei ihr getroffen hat. Kurze Zeit später jedoch führt das Schicksal sie dann schon wieder zusammen, an einer weiteren Raststätte nämlich. Er ist mit einem LKW-Fahrer unterwegs, und auch sie macht die Nacht über Rast. Sie wird von einem Mann angegriffen und um ein Haar vergewaltigt, und Jan kommt gerade noch zur rechten Zeit. Von nun an ist eigentlich klar, dass sie den Rest des Weges gemeinsam zurücklegen werden, erstmal bis zur Grenze, dann quer durch Belgien, quer durch Frankreich, bewusst mitten durchs Land statt auf der Autobahn, und schließlich rüber nach Spanien. Und hier wissen beide längst, dass sie noch eine ganz andere Frage miteinander zu klären haben werden...

  Dieses Thema bahnt sich einigermaßen früh zwischen den beiden an, nachdem anfängliche Irritationen und Missverständnisse im Gespräch bereinigt werden konnten. Jan tritt ins Fettnäpfchen, weil er leichtsinnig über den Egoismus von Selbstmördern schwadroniert, und wir sehen an Jules zunehmend betroffenem Gesichtsausdruck schon, dass ihr Bruder, von dessen Tod sie schon erzählt hatte, genau so einer war. Später mal kehren sich die Verhältnisse um, als Jule ein wenig zu penetrant über sein derangiertes Selbstwertgefühl referiert, was auf die fehlende Vaterfigur und die konstante Ablehnung durch den Ersatzvater zurückgeht. Zwei ganz normale junge Leute also, beide haben sie so ihre Baustellen und haben gelernt, sie im Alltag soweit im Griff zu haben, dass sie gut funktionieren. Erst die langen Gespräche während ihrer tagelangen gemeinsamen Reise lassen einiges wieder aufbrechen, zwingen sie dazu, sich mal wieder damit auseinanderzusetzen, und das tun sie anfangs widerwillig, aber dann doch, weil der andere ihnen so sympathisch ist. Die lange gemeinsame Fahrt im Auto, der Weg ist für ein paar Tage das Ziel, das viele Reden, das zusammen Albern und Lachen, manchmal auch das Streiten und Diskutieren. Das Bummeln über die Dörfer, durch die Ardennen, an der Loire entlang, später am Atlantik, das Pausemachen auf Zeltplätzen, planschen im Fluss oder im See, später im Meer – zusammen unterwegs sein, sich kennenlernen, sich näherkommen, sich schließlich schön langsam und gründlich verlieben.

 Ein Liebesfilm und Roadmovie in einem und beides ist gleichermaßen geglückt. Die Reise als ein Zustand zwischen zwei Standorten, ein Loslassen, ein Sichtreibenlassen, eine Art vorübergehende Auszeit vom Alltag, und nie zuvor habe ich das so intensiv empfunden wie in „303“. Ich glaube, ich hätte den beiden noch tagelang zusehen können, wie sie durch die französische Provinz zockeln, ein bisschen was von Land und Leuten kennenlernen, durchaus offen und interessiert, aber immer auch ganz aufeinander bezogen, die Signale des anderen zunehmend wachsam aufnehmend. Sie schaut zu ihm hin, wenn er es gerade nicht mitkriegt und umgekehrt. Glauben sie jedenfalls beide. Die beidseitige Sympathie ist ziemlich schnell spürbar, doch brauchen beide einige Zeit, bis sie sich mit dem Gedanken anfreunden können, dass da noch mehr entsteht und dass vor allem eine Entscheidung auf sie wartet. Auch das fließt ständig in ihre Gespräche ein, ein unentwegter, geradezu genial konstruierter Wortfluss, der entweder unfassbar gut geschrieben oder unfassbar gut improvisiert wurde. Anfangs geht’s noch um das große Ganze, das Weltgeschehen, die Menschheit, die Ökologie, die Philosophie, Studentenschnack halt. Bald wird’s aber privater, es geht um Beziehungen, um Bindungsängste, um Sex und Liebe und wie beides miteinander in Beziehung steht. Das Unverbindliche verschwindet aus der Unterhaltung, sie geben zunehmend mehr von sich preis und sind manchmal selbst überrascht davon. Ein paar kurze intime Momente zwischendurch werden noch weggewischt, vor allem von ihr, denn sie hat ja ihren Freund und eigentlich eine Zukunft mit ihm im Visier, obwohl sie aus ein paar Telefonaten unterwegs schon weiß, dass es schwierig bis unmöglich sein wird, ihm das Kind schmackhaft zu machen. Falscher Zeitpunkt Jule, und so. Er ist momentan solo und hat sowieso Probleme, länger als ein paar Monate mit einem Mädchen zusammen zu bleiben, ein Thema, in das sie sich natürlich besonders gern reinklemmt und ihm schön gründlich erläutert, warum das so ist. Klischees von Mann und Frau bleiben ganz außen vor, jeglicher Anflug von billigen Scherzen auf Kosten der hinlänglich ausgewalzten Geschlechterstereotypen wird total vermieden. Nicht nur in dieser Hinsicht werden Jan und Jule als Charaktere hundertprozentig ernst genommen. „303“ hat zugleich diesen tiefen Ernst und eine wunderbare Leichtigkeit, die rein gar nichts mit Wohlfühlkino zu tun hat, die vielmehr etwas mit Chemie, mit Unterwegssein zu tun hat und die dabei nicht ausschließt, dass es zwischen den beiden auch mal etwas schwerer werden kann, und zwar nicht nur am Schluss, wenn Jule mit sich selbst ringt und Jan hilflos daneben steht und nichts tun kann, als auf ihren Entschluss zu warten. Wie sagt der verständnisvolle portugiesische Wirt, der ihn spätnachts sanft hinauskomplimentiert: Die Frauen sind unser Schicksal.

   Weingartners Regie ist etwas Besonderes, weil sie die verschiedenen Elemente so perfekt gegeneinander balanciert, sowohl das Leichte als auch das Schwere stehen und wirken lässt, ohne das eine auf Kosten des anderen zu verharmlosen, weil sie das Motiv der Reise konsequent und mit viel Blick für Details behandelt und weil sie niemals mehr zeigen möchte als eine Liebesgeschichte und uns daran erinnert, wie selten wir eigentlich eine Liebesgeschichte ohne unnötigen Ballast zu sehen kriegen. Der Rhythmus ist entspannt aber nicht lax, im richtigen Moment wird mal innegehalten, danach fließt es wieder weiter, Blicke, Gesten, Worte kommen gleichermaßen zur Geltung, zugleich beiläufig und dennoch mit größter Aufmerksamkeit gesehen. Eine solch intensive Zuneigung zu den Hauptfiguren ist selten und sie hat mich sehr berührt.

 

   Mala Emde und Anton Spieker sind auch etwas Besonderes, denn wie die beiden hier zusammenspielen, das kommt wirklich nicht häufig vor im Kino. Wie sie ihre jeweiligen Rollen ausleben, so echt, so natürlich, so total authentisch in Sprache und Haltung, dass sie tatsächlich irgendwelche x-beliebigen Studenten aus jedem x-beliebigen Land sein könnten. Wie sie miteinander Kontakt aufnehmen, erst mal schnuppern und testen, Grenzen erfahren durch Versuch und Irrtum, wie sie dann mit ihrem immer deutlicher werdenden Gefühl füreinander umgehen und am Ende diese tolle Vertrautheit geschaffen haben. Ganz groß, wunderschön und sehr rührend irgendwie. Ich habe jede Minute dieses zweieinhalb Stunden langen Films genossen, er hätte wie gesagt von mir aus noch viel länger dauern können, und bin wirklich glücklich und zufrieden zurück in den Alltag gegangen, und das habe ich in diesem Kinojahr bislang höchst selten erlebt. (16.8.)