You were never really here (A beautiful day) von Lynne Ramsay. England/Frankreich/USA, 2017. Joaquin Phoenix, Ekaterina Samsonov, Judith Roberts, John Doman, Alex Manette, Alessandro Nivola

   Gibt ja schon mal diese Filme ab und an, die mich ein bisschen in den Magen treffen und dort auch noch ein Weilchen herumwühlen. Michael Haneke hat sowas früher mal gemacht, und Lynne Ramsay selbst auch, wenn ich an „We need to talk about Kevin“ denke, und diesmal hat sie’s wieder getan. Nur ohne Hanekes Zeigefinger, gottseidank. Und wenn man schon den „Taxi Driver“ ins Spiel bringen will, was nicht mal allzu weit hergeholt ist, dann muss ich auch sagen, ohne Scorseses Schwatzhaftigkeit, denn der hat ja fast eine halbe Stunde länger benötigt, um diese Botschaft zu uns rüberzubringen: Die Hölle, das sind nicht die anderen, die Hölle, das sind wir alle. Das Wirkungsvolle an diesen Filmen ist abgesehen von ihrer beklemmenden Wucht und Gewalttätigkeit eben ist diese kompromisslose Sicht auf unser menschliches Dasein – und für uns Jungs ist sowas doppelt attraktiv, weil wir lieben ja diesen suizidalen Fatalismus, nicht wahr? A man’s gotta do what a man‘s gotta do und so weiter…

   Das gilt auf jeden Fall für den Mann Joe – struppiges Grauhaar mit Zopf, struppiger Graubart, schwerer Körper mit schleppendem Gang, schwarzer, erschöpfter Blick und überall Narben, körperlich wie seelisch, das verstehen wir schnell. Ein Mann, der Furchtbares erlebt hat, und das fing wohl schon in der Familie an, denn die schockartigen Flashbacks zeigen einen Jungen und seine Mutter in Angst und Panik vor dem brutalen  Psychovater, und das ging dann später auch so weiter mit Kriegsgrauen und anderem traumatischen Zeug. All das liegt ihm so schwer auf der Seele, dass er zu einem „normalen“ Leben offenbar nicht mehr imstande ist, und deshalb erledigt er für einen Mann namens McCleary „Jobs“, die zumeist darin bestehen, Mädchen aus der Gewalt von Männern zu befreien, und dies erledigt er mit maximalem Nachdruck und vorzugsweise einem jeweils frisch im Baumarkt gekauften Hammer, den er sehr effektvoll zu benutzen versteht. Abgesehen davon kümmert er sich um seine betagte Mutter, die in ihrer heruntergekommenen Wohnung vor sich hinvegetiert, und versucht ansonsten, seine inneren Dämonen im Schach zu halten, was aber nur zur Hälfte gelingt. Sein letzter Auftrag nun wird ganz fürchterlich schief gehen und entgleisen – ein New Yorker Senator will seine kleine Nina wiederhaben, die „irgendwie“ in die Hände von Unholden geraten ist. Joe findet und befreit sie unter gewohntem Blutvergießen, doch bald darauf rücken uniformierte Killertruppen an, töten seinen Nachbarn und Mittelsmann und dessen kleinen Sohn und vor allem seine Mutter. Joe findet heraus, dass Ninas Papa selbst Teil einer pädophilen Schweinebande ist, seine Nina eigenhändig an seine Mitschweine „vermietet“ hat, nun jedoch aussteigen will und dafür bestraft werden soll. Joe schließt nun endgültig mit dem Rest seines Lebens ab, bestattet seine Mutter in einem See, in dem er sich eigentlich gleich mit ertränken will, doch eine Vision des zarten blonden Mädchens lässt ihn wieder an die Wasseroberfläche steigen. Er entschließt sich zur Vergeltung, kauft einen neuen Hammer, schnappt sich eine Schusswaffe und sucht den Chefbösewicht auf, den Gouverneur Williams, in dessen Anwesen Nina gefangen gehalten und missbraucht wird. Unter dem Wachpersonal richtet er das handelsübliche Massaker an, doch bei dem Hauptschwein ist das Mädchen ihm schon zuvorgekommen, indem sie ein Rasiermesser zum Einsatz gebracht und Williams einen Luftröhrenschnitt verpasst hat. Blutüberströmt und schwer verstört räumen die beiden das Feld, doch am nächsten Tag sitzen sie in einem Diner, und die Welt sieht schon wieder anders aus, zumindest für Nina. Denn während Joe davon träumt, sich das Hirn wegzuschießen, macht sie ihm klar, dass heute doch ein schöner Tag sei und man einfach weitermachen könnte. Und Joe sagt „yes“ und steht mir ihr auf.

   Diesmal macht sogar der deutsche Titel Sinn, denn dieser letzte Satz des Mädchens mit den eigenartig toten hellblauen Augen führt das ganze Vorangegangene auf grausige Weise ad absurdum. Während der Originaltitel ehe auf Joe und sein Leben verweist, beziehungsweise auf das Leben, das er eigentlich nie so richtig hatte, den Menschen, der er nie so richtig sein konnte, denn schon er brutal misshandelnde Vater hat dafür gesorgt, dass ihn die grauenhaften Bilder für immer begleiten und quälen werden. Also eine Schattenexistenz, auch später als Soldat, Kanonenfutter, ein Mensch, der niemals richtig gelebt hat. Lynne Ramsay hat daraus ein absolut brillant inszeniertes, komponiertes und arrangiertes Psycho- und Sozialporträt geschaffen, eine grimmige Tragödie, ein dunkles Nachtschattendrama, eine moderne urbane Noir-Ballade, in der es wirklich fast kein Fleckchen Hoffnung, Erleichterung, Trost zu geben scheint, nur gelegentlich im Kontakt zu seiner Mutter oder zu Nina schleicht sich so etwas wie Milde, Zuneigung, fast Zärtlichkeit auf Joes Gesicht. Ansonsten ist er als düsterer Missionar gegen Missbrauch, Vergewaltigung, Menschenhandel unterwegs, nur eben einer, der im Vergleich zu Travis Bickle sehr viel weniger bis gar keine Worte macht, und so ist auch die Inszenierung. Knappe neunzig Minuten, keine Szene zuviel, alles wird extrem dicht kondensiert, die Erzählung auf das Nötigste reduziert, vieles bleibt angedeutet, verschwindet im Seitenblick, vor allem auch die Leichen, die Joes Weg säumen. Die Gewalt ist zwar ständig präsent, selten jedoch explizit, denn Ramsay geht es sicherlich mehr um anderes, nämlich um Joe und um das, was die Ereignisse mit ihm machen und schon gemacht haben. Das Gesellschaftsbild ist trostlos bis dorthinaus, Korruption und Gewalt, wo man hinschaut, das kommt aus den Familien und setzt sich in der Politik fort, und zurück bleiben Opfer wie Joe oder Nina, deren glattes Kindergesicht wie ein schrecklicher Spiegel dessen ist, was sie schon durchlitten haben muss.

 

   Joaquin Phoenix ist die optimale Besetzung für den Joe in einer seiner absolut stärksten Darstellungen, die buchstäblich unter die Haut geht. Noch spektakulärer aber finde ich Ramsays Inszenierung, vor allem das Zusammenspiel von Bild und Ton, das ich lange nicht mehr so kunstvoll erlebt habe. Das Sound Design ist schon für sich genommen ein Ereignis, man müsste den Film eigentlich noch mal mit geschlossenen Augen verfolgen, ihn nur hören, und ich bin mir sicher, es würde sich trotzdem alles mitteilen. Eine Kakophonie, mal dumpf und dräuend, mal stakkato, eine Art moderner Symphonie, ergänzt durch Johnny Greenwoods wie immer fabelhafte Musik. Ganz stark gemacht, sehr eindrucksvoll, lange nachwirkend, wo wie der Film insgesamt, der mich inhaltlich gesehen noch nicht so sehr angesprochen hat, der aber einfach unglaublich gut inszeniert ist. Lynne Ramsay ist ja hierzulande leider nur sehr selten zu sehen, macht auch leider nur selten Filme, aber wenn, dann haben sie Gewicht. (27.4.)