On Chesil Beach (Am Strand) von Dominic Cooper. England, 2018. Saoirse Ronan, Billy Howle, Samuel West, Emily Watson, Bebe Cave, Anne-Marie Duff, Adrian Scarborough, Anna Burgess, Mia Burgess
Chesil Beach in Südengland ist einer der Schauplätze dieser Geschichte um eine sehr kurze Ehe, eine verschwendete Liebe, oder eben nur ein Missverständnis. Und auch einer Geschichte über Sitte und Moral im Jahre 1962 und ein kleines bisschen über die britische Klassengesellschaft, die damals vielleicht noch etwas fester im Sattel saß als heutzutage. Genau wie der vorangegangene „Vom Ende einer Geschichte“ auch eine britische Romanverfilmung, für die der Autor Ian McEwan höchstselbst die Adaption verfasst hat. Lange her, dass ich einen Roman von dem gelesen habe, komisch eigentlich, denn alle, die ich von ihm kenne, sind fabelhaft, und dieser hat sicherlich auch das Potential dazu.
Die verhinderten Eheleute, das sind Florence und Edward. Sie lebt in einer bornierten Möchtegern-Upperclass-Familie mit sehr wenig Wärme, dafür umso mehr Klassendünkel und Prestigedenken. Er lebt in einer eher chaotischen Familie, die dominiert wird von der Mutter, die nach einem tragischen Unfall eine Hirnschädigung behält und sich fortan völlig unberechenbar verhält. Er schämt sich zumeist, doch immerhin gibt es hier familiäre Nähe und Geborgenheit, die sie nie erlebt hat und zu der sie sich wiederum hingezogen fühlt. Florence ist eine ehrgeizige Violinistin, die ein vielversprechendes Quintett aufgebaut hat, er ist ein Oxford-Raufbold, aber einer mit Charme. Sir sind schon recht verschieden – sie ist manchmal eine spießige Gans, er ein ungehobelter kleiner Junge, doch sie verlieben sich, und vor allem gegen den entschiedenen Widerstand ihrer Eltern beschließen sie, zu heiraten. Edwards Vater sieht sofort, dass sie eine gute Wahl ist, Florences Eltern hingegen rümpfen skeptisch die Nase, obwohl Paps dem künftigen Schwiegersohn einen Job in seiner Firma besorgt. Edwards kleine Schwestern sind neugierig, Florences kleine Schwester auch – und dann kommt alles ganz anders, denn dann kommt der Tag der Trauung, vor allem der Rückzug ins eheliche Hotelzimmer danach. Sie erwartet bange, was nun kommen muss, nämlich der eheliche Vollzug, den er maximal ungeschickt anbahnt, was ihre Angst nur noch schürt, und so endet alles in einem furchtbaren Desaster, denn keiner der beiden hatte sexuelle Vorerfahrung, und sie finden zusammen keinen Weg, diese prekäre Situation halbwegs anständig zu überstehen. Florence flieht in Panik aus dem Hotel runter an den Strand, und dort am Chesil Beach entscheidet sich das Schicksal dieser Ehe, die nämlich in diesem Moment schon wieder zu Ende ist. Florence macht Edward aus Liebe einen Vorschlag, den er ungeheuerlich findet und empört ablehnt, er wiederum tut überhaupt nichts, um das Ganze zu retten, und so trennen sie sich an diesem ihrem Hochzeitstag und sehen sich nie wieder. Über zehn Jahre später trifft Edward auf ein kleines Mädchen, das ihn jäh an Florence erinnert und das vor allem genau den Namen trägt, den sie für ihr erstes Kind ausgewählt hätte. Wiederum drei Jahrzehnte später sehen sie sich dann doch noch mal, wenn auch von fern – sie auf der Bühne beim letzten Konzert ihres Streichquartetts und er unten im Zuschauerraum, in der dritten Reihe, so wie er es ihr einst versprochen hatte. Er weint, sie lässt eine Träne fließen, und dann ist es vorüber.
Ich glaube, dass diese letzte Szene nicht im Buch enthalten ist, und ich begreife auch nicht recht, wieso Ian McEwan sie in sein Drehbuch eingebaut hat, denn ich hätte sehr gut ohne sie leben können. Sie gibt der ganzen Geschichte einen unangemessen sentimentalen Ausklang, und das passt einfach nicht zu ihr, denn zuvor geht es hier um eine teilweise ziemlich scharfe Sezierung einer Beziehung zwischen restriktiver Moral, familiären Altlasten und dem kompletten Unvermögen, eine eigene Perspektive und Lösung zu finden. Beide sind wie gelähmt von ihrem jeweiligen familiären Hintergrund und vor allem von den tradierten Erwartungen, die mit so etwas wie der „Hochzeitsnacht“ verbunden sind. Diese ausgesprochen qualvolle Szene ist gemeinsam mit der am Strand danach das Kernstück des Films, hier verdichtet sich die lang angesammelte Summe aus größeren und kleineren Missverständnissen, Missstimmungen, Meinungsverschiedenheiten. Florence und Edward sind sich durchaus in vielen Dingen nicht einig, sie stammen aus sehr verschiedenen Familien, und obwohl Edward sehr viel freier und großherziger aufwächst, entpuppt auch er sich im entscheidenden Moment als frustrierend kleingeistig, engstirnig, bigott. Er kann der Not seiner jungen Frau nicht sehen, kann nicht mit ihren Ängsten umgehen, erst recht nicht mit dem Vorschlag, den sie ihm macht zur Abreagierung seiner sexuellen Bedürfnisse, die sie, das ist ihr völlig klar, niemals wird erfüllen können und wollen. Selten hat eine Schlafzimmerszene so bedrückend real auf mich gewirkt – ihre zunehmende schiere Panik vor dem, was jetzt offenbar unvermeidlich geschehen muss, die verkrampften Hände, die aufgerissenen Augen, das wachsbleiche Gesicht, und dann doch die Bereitschaft, sich in diese Unvermeidliche zu fügen, weil es eben die Pflicht einer Ehefrau ist. Er gibt sich forsch, dominant, drängend, um dann mehr und mehr in sich zusammenzufallen und ihr schließlich zu enthüllen, dass es auch für ihn das erste Mal ist. Fast scheint es so, als könnten die beiden einen Weg finden, über unverfängliche Gespräche die furchtbare Verkrampfung zu lösen, die Katastrophe doch abzuwenden, doch dann versucht er doch, die Ehe zu vollziehen, wie es so schön heißt, ignoriert ihre Signale völlig, ignoriert auch seinen eigenen Zustand, er tut einfach, was er glaubt tun zu müssen, weil er ja der Mann ist. Hier schleicht sich dann eine ganz kurze und vage Andeutung ein, eine Erinnerung von Florence an ihren Vater und eine ausgesprochen starke Reaktion in ihrem Gesicht, die uns offenbar in Richtung Missbrauch lenken will, ohne dass diese Spur früher oder später jemals vertieft wird. So bleibt die wahre Ursache ihres Horrors offen, könnte ebenso gut natürlich zurückgehen auf ihre Erziehung, ihr schlimmes Elternhaus, klamm, kalt, lieb- und leblos, von dem sie sich nur mittels größtmöglichen Ehrgeizes befreien konnte, mittels der Musik und ihres Quartetts. Das alles versteht Edward nicht und damit fehlt ihm auch die Möglichkeit, sie selbst zu verstehen. Sie versteht ihn umgekehrt viel besser, nur überfordert sie ihn, indem sie ihm anbietet, dass er zu anderen Frauen gehen kann, um mit ihnen Sex zu haben, während sie beide verheiratet und gute Freunde bleiben.
Saoirse Ronan und Billy Howle finden eine großartige Chemie miteinander, gestalten vor allem jene beiden Schlüsselszenen mit solcher Eindringlichkeit, dass ich wirklich intensiv mitfühlen musste. Davor und danach gibt‘s viel Scharfzüngiges über die britische Gesellschaft in den frühen 60ern zwischen Cricket, Oxford und ersten Anti-Atom-Demos. Die Inszenierung ist eindrucksvoll dicht, die immer wieder eingefügten Rückblenden in diesem Fall überzeugend integriert, und die entscheidenden Momente sind wirklich auf den Punkt gebracht, sodass wir spüren, dass es genau auf sie ankommt. Wären da nicht die leidigen letzten fünf Minuten, hätte dies tatsächlich eine herausragende britische Literaturverfilmung sein können – so ist es vielleicht eine gute, aber immerhin. Was den Mr. McEwan geritten haben mag? Das versteh ein anderer…(2.7.)