Visages Villages (Augenblicke – Gesichter einer Reise) von Agnès Varda und JR. Frankreich, 2018.

   Oma Agnès, die unumstrittene und noch immer wunderbar eigensinnige Grande Dame der französischen Nouvelle Vague hat all ihre Jungs und Weggefährten überlebt (die Resnais, Rivette, Rohmer, Truffaut sowieso, bis auf Opa Jean-Luc) und sich jetzt zum Neunzigsten noch mal ein schönes Geschenke gemacht, nämlich diesen sehr originellen und poetischen Reisefilm, den sie zusammen mit JR gemacht hat, einem Aktionskünstler der ebensogut ihr Enkel sein könnte. Mit JRs Fotomobil sind die beiden unterwegs kreuz und quer durchs Land, vom bäuerlichen Süden bis in den industriellen Norden, und sie kümmern sich ausschließlich um die ganz normalen Menschen, nähern sich ihnen, sprechen mit ihnen, porträtieren sie und kleben ihre enorm vergrößerten Porträts am Schluss auf die Fassaden der Häuser, manchmal auch auf andere große Flächen, Silos, Waggons, Scheunen, sogar Bunker an der abbröckelnden Kanalküste und dergleichen mehr. Eine Hommage also an die Menschen zwischen Stadt und Land und natürlich zugleich ein künstlerischer Dialog zweier Generationen, zweier ganz verschiedener Menschen mit ganz verschiedenen Geschichten und Methoden, die allerdings ein Entscheidendes gemeinsam haben und das ist die Liebe zu den Leuten, die Neugier, die Offenheit, und natürlich steht die neunzigjährige Oma ihrem fünfunddreißigjährigen Enkel in nichts nach. Sie gibt sich kauzig und geprägt von alldem, was sie erlebt und erschaffen hat, er gibt sich cool, respektvoll und schick mysteriös mit seiner ewigen Sonnenbrille, die Agnès tüchtig nervt, weswegen sie ihn nach Frauenart solange bearbeitet, bis er sie schließlich ihr zuliebe in einem besonderen Moment absetzt und sie seine Augen sehen lässt – uns allerdings nicht, denn die Kamera zieht lustigerweise unscharf, sobald die Brille kurz mal weg ist.

   Ansonsten ist die Chemie zwischen den beiden voll intakt, kreativ, inspiriert, lebhaft. Man diskutiert, fachsimpelt, philosophiert auch mal drauflos, zockelt gemütlich durch die Lande, die schräg gefärbte Oma und der smarte Bohemien, und überall hinterlässt man verblüffte, gutgelaunte Menschen, die ganz unerwartet ein Gesicht bekommen haben und dieses Gesicht auch noch überlebensgroß auf einer Fassade wiederfinden. Die Hafenarbeiterfrauen in Le Havre, die Nachbarn eines verlassenen Geisterdorfes, die Bewohner eines idyllischen Kleinstädtchens im Lavendelland, der stolze Grundbesitzer im Bauernland und so weiter. Das Konzept der beiden Reisenden ist ebenso einfach wie bestechend und hat im Kern etwas sehr Rührendes. Moderne Kunst ist bekanntlich nicht immer so menschennahe, und das macht auf jeden Fall den Charme dieses Unternehmens wie auch des Films insgesamt aus.

   Dies wäre kein Film von Agnès Varda, wenn es nicht zwischendurch Reminiszenzen an ihre schöpferische Vergangenheit gäbe und natürlich Reminiszenzen an den geliebten Jacquot de Nantes, dem sie einst ihren schönsten Film eigens widmete, und der nach wie vor Teil ihrer Seele ist. Und es gibt tatsächlich auch einen nachhaltig traurigen Augenblick, als Agnès und JR in die Schweiz reisen, wo sie mit Opa Jean-Luc verabredet sind, doch der doofe Alte macht die Tür nicht auf, hinterlässt stattdessen eine Nachricht, die Agnès tief trifft, weil sie auf früher anspielt und Gefühle aufwühlt, mit denen Agnès sich eigentlich gar nicht auseinandersetzen möchte. Und so steht die alte Dame da vor verschlossener Tür, enttäuscht und betroffen, äußert dennoch, dass sie Jean-Luc, den sie ja seit Ewigkeiten kennt, trotz allem mag, auch wenn diese Aktion jetzt total daneben war.

 

   Ich für meinen Teil finde diesen Film ehrlich gesagt nicht weltbewegend, doch strahlt er eine wunderbare Entspanntheit aus, eine in sich ruhende Lässigkeit, Schönheit, Leichtigkeit und vor allem Zärtlichkeit, die sich sehr stark mitteilt und mich natürlich auch erreicht hat. Es ist einfach wunderbar zu erleben, dass es diese Grande Dame noch immer gibt, in all ihrer Eigenwilligkeit, Kreativität und Selbstbewusstheit, dass sie zwar längst Teil unseres Kinokanons ist, doch damit noch lang kein Museumsstück, und wenn man ihre großen, wachen, verschmitzten Augen sieht, traut man ihr durchaus zu, dass sie sich auch zum hundertsten noch ein filmisches Ständchen bringt. Eine wie sie wird es nicht wieder geben, ich hoffen allerdings doch, dass in absehbarer Zeit gerade in Frankreich mal wieder ein paar Persönlichkeiten heranwachsen, die mir Hoffnung auf die Zukunft machen statt mich in wehmütiger Nostalgie und in Gedenken an die oben genannten Herrschaften verharren lassen, die momentan noch keine wirklich würdige Nachfolgegeneration gefunden zu haben scheinen. (13.6.)