Sameblod (Das Mädchen aus dem Norden) von Amanda Kernell. Schweden/ Norwegen/Dänemark, 2016. Lene Cecilia Sparrok, Mia Erika Sparrok, Maj-Doris Rimpi, Hanna Alström, Julius Fleischanderl, Malin Crépin, Olle Sarri

   Die alte Frau kommt mit ihrem Sohn und ihrer Enkelin zur Beerdigung. Ihre Schwester wird beerdigt, hoch im Norden bei den Samen, wohin eigentlich auch die alte Frau gehört, doch sie will davon nichts wissen, will auch nicht Samisch sprechen und blockt jeden Kontaktversuch der Einheimischen ab. Ihr Sohn versteht ihre beharrliche, verstockte Ablehnung nicht, zieht schließlich mit seiner Tochter allein los, um Rentiere zu markieren und nachher eine Einladung in den Zelten der großen Familie anzunehmen. So bleibt die alte Frau allein zurück, hat sich ein Hotelzimmer genommen, weil sie eben nicht bei den Samen wohnen will, geht dann runter ins Restaurant, wo viele schwedische Touristen feiern, und dort hört sie die gleichen abfälligen Sprüche über die Samen, die sie ihr Leben lang hören musste. Mitten in der ausgelassen feiernden Menge steht sie am Fenster, schaut hinaus auf die Berge und erinnert sich.

   Damals war sie ein junges Mädchen knapp vorm Erwachsenwerden, hieß Elle Marja und lebte mit der Mutter und der jüngeren Schwester Njenna bei der Familie in den Zelten ganz nach traditioneller Art der Sami. Der Vater ist gestorben, hat eine Rentierherde und einen Silbergürtel hinterlassen, und auch sonst ist das Leben denkbar einfach. Der Weg zur Schule ist jeden Tag ein  Spießrutenlauf, vorbei an Schweden und assimilierten Sami, die die beiden Mädchen gleichermaßen mit Hohn und Spott begleiten, In der Schule eine rein samische Klasse. Die samische Sprache ist tabu, der Unterricht orientiert sich einzig an schwedischen Themen und Werten, und die Lehrerin macht den Schülern immer wieder klar, dass sie aufgrund ihres unterentwickelten Gehirns niemals eine Möglichkeit auf eine höhere Schulbildung hätten. Zum Beweis werden die samischen Kinder diversen „Untersuchungen“ von Biologen unterworfen, werden vermessen, fotografiert, nackt zur Schau gestellt, erniedrigt. Elle Marja träumt von einem andere Leben, will nicht mehr Elle Marja heißen, sondern Christina, will nicht mehr samisch sprechen, nicht mehr die samische Tracht tragen. Sie schnappt sich das Kleid ihrer Lehrerin und büxt abends aus zum Tanz der schwedischen Jugend, lernt dort den smarten Niklas kennen, der das junge Mädchen als leichte Beute einstuft. Elle Marja wird schließlich eingefangen, doch ihre Ausbruchsversuche haben sie mittlerweile auch von ihren samischen Mitschülerinnen entfremdet, und auch von der eigenen Schwester hat sie kein Verständnis, keine Unterstützung zu erwarten. Sie nimmt den Zug nach Süden, nach Uppsala, wo Niklas lebt, um dort zu studieren, doch die geplante Flucht in ein neues, ein besseres Leben wird zu einem einzigen Desaster, und schwer geschlagen muss sie nach Hause zurückkehren. Doch ihre Entschlossenheit ist ungebrochen, und so fordert sie von ihrer verbitterten Mutter den Silbergürtel des Vaters, der ihr ein Studium ermöglichen soll. Die Mutter übergibt ihn ihr schließlich, doch ist der Bruch mit ihrer Familie endgültig.

   Und dennoch geht die alte Christina an den Sarg ihrer toten Schwester Njenna und bittet sie um Verzeihung. Danach macht sie sich auf den Weg zu den Zelten ihres Volkes, wo sie irgendwo ihren Sohn und ihre Enkeltochter finden wird.

   Ein offenkundig sehr persönlicher und dennoch universell gültiger Film aus einer Welt, die bislang noch kaum Platz hatte im Kino. Umso schöner, dass es diesen Film gibt, der zudem noch ein ganz großartiger Film ist. Der in sehr ruhigem und eindringlichem Rhythmus einen weiten Bogen spannt, von damals bis heute, und obgleich das Damals rein quantitativ sehr viel mehr Gewicht hat in der Erzählung, ist es dennoch extrem wichtig für uns mitanzusehen, welche Folgen die Ereignisse aus den 30er Jahren über sechzig Jahre später noch haben. Wir sehen eine verbitterte alte Frau, die alles abgelegt zu haben scheint, was an ihre Herkunft erinnern könnte. Ihren Namen, ihre Sprache, ihre familiären Bindungen, jeglichen Kontakt zu ihrer alten Welt und den Menschen darin. Sie verleugnet nicht nur ihre Wurzeln, sie reagiert ausgesprochen roh, ablehnend, fast verletzend auf alle Annäherungsversuche und weigert sich zudem beharrlich, ihr Verhalten zu erklären. In über sechs Jahrzehnten hat sich etwas in ihr verfestigt, was damals als einziger Weg in ein anderes, besseres Leben blieb, nämlich die radikale Trennung von ihren Leuten, ihrer Kultur. Eine vielleicht indirektere, dafür aber sehr viel tiefergehende Folge von Rassismus und systematischer Unterdrückung, so wie sie die Samen seit jeher vorwiegend in Schweden erlebt haben. Entfremdung bis hin zum Selbsthass, so wie Elle Marja es durchlebt und so wie es in diesen zwei Stunden ausführlich und sehr überzeugend hergeleitet wird.

   Der Rassismus gebärdet sich vielfach roh und vulgär, dringt aber auch in alle Institutionen vor und wird schließlich geradezu zu einem kulturellen Bestandteil, wie man es in sehr vielen Ländern erlebt. Für viele der sogenannten „gebildeten“ und „kultivierten“ Schweden sind die Sami Halbwilde, struppige, stinkende, debile Geschöpfe, die allein aufgrund ihrer Rasse von minderer Intelligenz und Persönlichkeit sind und sich bestenfalls für anthropologische Studien eignen. Und damit sind nicht nur die barbarischen Vermessungen im Nazi-Stil gemeint, denen die Kinder aus Elle Marjas Schule ausgeliefert sind, damit ist auch das vermeintlich wohlwollende Interesse der Studentinnen in Uppsala gemeint, die Elle Marja bzw. Christina bitten, doch mal für sie zu joiken, weil das ja so schön authentisch und exotisch ist. Christinas Versuche, sich anzupassen, ihre Herkunft vergessen zu machen, scheitern immer wieder, erst recht in der wohlhabenden und blasierten Gesellschaft von Niklas und seinesgleichen, allesamt schlanke und hochgewachsene Leute, die mit diesem merkwürdigen, untersetzten kleinen Mädchen natürlich überhaupt nichts anzufangen wissen. Christinas Flucht nach Hause zeigt aber nur, dass sie dort oben im Norden eben nicht mehr zu Hause ist, dass sie nirgendwo mehr hingehört, weder in ihre alte Welt noch in die neue, nach der sie sich sehnt. Satt jedoch zu versuchen, sich wieder ihrer Familie anzunähern, vollzieht sie den endgültigen Bruch und fordert von der Mutter ihr Erbanteil, der eigentlich dringend als Rücklage gebraucht würde und macht damit klar, dass ihr die Zukunft ihrer Mutter und Schwester nicht mehr primär am Herzen liegt, sondern nur noch ihre eigene. Somit ist es wohl nicht nur Verbitterung, die die alte Christina auf der Beerdigung der Schwester empfindet, sondern auch Scham. Scham als eine weitere Konsequenz eines rassistischen Systems.

 

   Amanda Kernell, die auch das Drehbuch schrieb und spürbar aus eigener Erfahrung schöpft, inszeniert die Geschichte sehr gradlinig, kraftvoll, macht nicht mehr Worte, als notwendig sind und behält auch die Situation der Sami damals und heute etwas allgemeiner im Blick. Noch immer sind sie Gegenstand abfälliger, herablassender Bemerkungen, und ihre Versuche, trotz aller Modernisierung Reste ihrer traditionellen Lebensweise aufrecht zu erhalten, enden in einem eigenartigen Spagat, den auch Christina und ihre Familie nicht übersehen können. Eine faszinierende, sehr ausdrucksstarke Erzählung aus dem Norden, der leider, ich bete das seit Jahren runter, kaum noch in unseren Kinos präsent ist. Immerhin gibt es ab und zu mal ein signifikantes Lebenszeichen, so wie in diesem Fall, und das ist dann eine besonders schöne Sache. (5.4.)