Das schweigende Klassenzimmer von Lars Kraume. BRD, 2017. Leonard Scheicher, Tom Gramenz, Lena Klenke, Isaiah Michalski, Jonas Dassler, Ronald Zehrfeld, Max Hopp, Judith Engel, Götz Schubert, Florian Lukas, Jördis Triebel, Burkhart Klaußner, Michael Gwisdek
Diese Geschichte trägt sich zu in der DDR, in Stalinstadt, heute ungefähr Eisenhüttenstadt, anno 1956. Eine Abiturientenklasse am hiesigen Gymnasium, eins von vielen Prestigeprojekten, auf die die Regierung so stolz ist, weil nun auch für die Angehörigen der Arbeiterklasse Bildung und beruflicher Aufstieg frei zugänglich sind. Das Problem war damals nur, dass das Land noch nicht so hermetisch gegen den feindlichen Westen abgeschottet war. Und so können die Freunde Theo und Kurt beispielsweise ohne größere Probleme, von den üblichen verbalen Schikanen der Grenzer im Zug abgesehen, das Grab von Kurts im Krieg gefallenen Großvater in Westberlin besuchen – und vor allem nachher noch ins Kino, um sich die halbnackte Marion Michael im Urwald anzusehen und auch die Wochenschau davor. Darin gibt es Bilder von dem zu sehen, was gegenwärtig in Ungarn passiert, ein Volksaufstand gegen die sowjetische Besatzungsdiktatur. Verwirrt fahren die beiden heim und hören dort, dass das Thema ziemlich heikel ist. Eine ganze Gruppe von Schulfreunden hört regelmäßig beim alten Edgar, der in einem halb verfallenen Anwesen haust, den Feindsender RIAS und vergleichen die Berichterstattung, mit dem, was ihnen die heimischen Organe vorsetzen: Die einen sprechen von einem mutigen Aufstand für die Freiheit, der schließlich brutal von der sowjetischen Übermacht niedergeknüppelt wird, die anderen von einer Konterrevolution, die von kapitalistisch-faschistischen Spionen angezettelt wurde zur Destabilisierung des Sozialismus in Ungarn. Die Schüler sind natürlich nicht dumm, und als die Nachricht von den vielen Toten die Runde macht, und als auch noch kolportiert wird, das Ferenc Puskás unter den Opfern ist, rufen die beiden Wortführer Kurt und Theo zum Protest auf: Sie wollen eine Schweigeminute im Unterricht veranstalten, um ihre Solidarität mit den gefallenen Aufständischen zu demonstrieren. Die Obrigkeit ist nicht amüsiert und reagiert zur Überraschung der Schüler äußerst drastisch: Es werden scharfe Einzelverhöre abgehalten, der Rädelsführer soll unbedingt ermittelt werden, eine strenge Kreisschulrätin verbreitet erstes Unbehagen, und schließlich tritt sogar der Bildungsminister auf den Plan und faselt was von Konterrevolution. Damit ist klar, dass dies nicht als banaler Schülerstreich durchgehen wird. Die Schüler geraten stark unter Druck, auch zuhause, wo die Eltern kein Verständnis zeigen, sondern ihnen klarmachen, dass ihre Zukunft und auch das Ansehen der gesamten Familie auf dem Spiel stehen. Theo und Kurt entzweien sich halbwegs über Lena, die zwischen ihnen steht, und einige der Jungs müssen sich nun zum ersten Mal konkret mit ihren Vätern und deren Vergangenheit und Werten auseinandersetzen. Die Obrigkeit ist hart und unerbittlich, der alte Edgar wird einkassiert, und unter den Schülern werden gezielt Zwietracht und verrat gesät. Kurt geht bei Nacht und Nebel rüber in den Westen, doch statt ihn als Bauernopfer zu nehmen und das eigene Abitur zu sichern, solidarisieren sich seine Mitschüler am nächsten Morgen und werden allesamt für die gesamte Republik vom Abitur ausgeschlossen. Die meisten von ihnen werden in den Westen gehen und dort ihren Abschluss nachholen, was aber auch bedeutet, dass sehr viele Familien für lange Zeit auseinandergerissen werden.
Eine wahre Geschichte, eine klare Aussage: Für Freiheit und Zivilcourage, gegen (Meinungs-)Diktatur, Engstirnigkeit, Bigotterie. Ein weiteres Gruselkapitel aus dem sozialistischen Musterländle, das sich mit eben soviel dogmatischem Elan wie Schuldbewusstsein daran machte, dem großen Bruder im Osten nachzueifern. Der alte Edgar bringt das zentrale Dilemma auf den Punkt: Ihr habt euch als Freidenker entpuppt und seid jetzt Staatsfeinde. So einfach war das wohl: Der abwich vom schmalen Pfad, wer der großen Partei der Werktätigen nicht in untertänigem Gehorsam und willfähriger Dankbarkeit verbunden war, galt sofort als schädlich und wurde mit allen denkbaren Mitteln bekämpft. Davon bekommen wir hier eine satte Kostprobe: Einschüchterung, Drohung, Demütigung, psychische Gewalt, das ganze Programm. Die Verbissenheit des Systems entspricht seiner Angst, wie immer in einer Diktatur, wo nichts so gefürchtet wird, wie ein kritisches Wort. Ein Regime, das nicht souverän genug ist, um eine spontane Protestgeste einfach so durchgehen und damit letztlich auch verpuffen zu lassen, das stattdessen mit grotesk überzogener Panik reagiert und damit letztlich nur offenbart, wie schwach und unsicher es im Grunde ist. Wir sind genau wie die Abiturienten empört, erschüttert, verstört, und die Haltung des Regisseurs und des Autors sind zu keiner Zeit unklar oder unmissverständlich. Und das ist völlig okay.
Nicht ganz so okay finde ich Lars Kraumes Regieleistung, die bei weitem nicht an die seiner besten Filme heranreicht, immerhin aber auch nicht so miserabel ist wie in dem total vermurksten „Familienfest“. Dennoch fühlte ich zwischendurch immer mal wieder eine leichte Enttäuschung oder fast schon Verstimmung darüber, wie konventionell Kraume mit der tollen Geschichte und den wirklich tollen Schauspielern verfahren ist. Er inszeniert Gefühlskino, gekonnt, das muss ich zugeben, effektvoll in jedem Fall, und eben durch die beeindruckende Präsenz der Darsteller maßgeblich getragen, doch er selbst steuert herzlich wenig bei außer vorhersehbarer Gefühlsverstärker in Form von massivem Musikeinsatz und aufdringlich gefühligen Szenen. Dabei gelingen ihm mit zunehmender Dauer immer weniger Augenblicke, die mich betroffen haben, wie das halt so ist: Je massiver ein Regisseur zu manipulieren versucht, desto weniger kann es ihm gelingen. Obwohl, vielleicht habe ich ihn ja auch missverstanden, und er wollte von Anfang an eher eine satirische Farce drehen. So hoffnungslos überzeichnet einige der Charaktere hier sind, könnte man tatsächlich auf diesen Gedanken kommen. Jördis Triebel beispielsweise tritt als uniformierte SED-Domina auf, die mit sanfter Stimme zynische Gemeinheiten absondert, und es braucht schon eine so hervorragende Schauspielerin wie sie, um nicht komplett die Würde zu verlieren. Burghart Klaußner erscheint als wahnhafter, faschistoider Großinquisitor, der vollständig immun gegen jegliche menschliche Regung ist. Ich will nicht abstreiten, dass es solche Figuren in der DDR gegeben hat, keine Frage, doch tut sich Kraume dennoch keinen gefallen, indem er dermaßen dick aufträgt. Unsere Solidarität würde auch ohne das in jedem Fall den Schülern gelten, da hätte er sich doch sicher sein können. Diese ungeschickte Brechstangenstrategie verbaut ihm außerdem einen intensiveren Zugang zu dem interessantesten Themenfeld hier, nämlich der Auseinandersetzung der Schüler mit ihren Eltern, vor allem eben den Vätern. Wo standen sie im Krieg, wo beim Volksaufstand von 1953, wie haben sie sich verhalten und wie verkaufen sie es nun ihren Kindern. Waren sie Kollaborateure, waren sie ihren Prinzipien treu, haben sie Verrat begangen, haben sie sich verkauft und welchen Preis haben sie bezahlt. Wo stehen sie heute im DDR-Regime und wie sind sie dahin gekommen. Zwei lebende Väter und ein toter, als Legende verklärter Rotfrontkämpfer spielen dabei eine wichtige Rolle, und immerhin verdankt der Film seine eindringlichsten, spannendsten Szenen auf jeden Fall diesem Seitensprung der Geschichte, der aber nicht immer ganz überzeugend mit dem Hauptarm verknüpft wird. Nicht überzeugend ist auch schon, dass das Drehbuch diese Väter (oder auch Stiefväter) sehr schön exemplarisch zugeordnet hat: Den Werktätigen im Stahlwerk, den ehrgeizigen Parteifunktionär, den Priester – alles etwas zu plakativ und zu sehr im Dienste der Sache. Dennoch hätte ich über sie sehr gern mehr erfahren, oder meinetwegen über den alten Homosexuellen Edgar, denn im Gegensatz zu den Schülern gibt es wenigstens bei denen etwas zu erfahren…
Also wie so oft bislang in diesem Filmjahr ein nur halbguter Film: Gut in seiner Absicht, in seiner Aussage, gut im Schauspiel und auch im kreierten Zeitkolorit. Aber doch nicht gut genug, denn er hätte noch so viel besser sein können… (8.3.)