Sir (Die Schneiderin der Träume) von Rohena Gera. Indien/Frankreich, 2018. Tillotama Shome, Vivek Gomber, Geetanjali Kulkarni, Rahul Vohra, Divya Seth Shah, Chandrachoor Rai, Dilnaz Irani, Bhagyashree Pandit
Ich bin weißgott heilfroh, dass ich mich nicht von dem kackdämlichen deutschen Verleihtitel habe abschrecken lassen, diesen Film zu sehen. Natürlich denkt jeder sofort an einen schön bunten indischen Wohlfühlschmarrn mit Mode und gutem Essen, viel Musik und Tanz, Bollywood also. All das ist dieser Film nicht, und die Arschgeigen im Verleih gehören eingebuchtet für ihre geradezu geschäftsschädigende Dummheit.
Der „Sir“ des Originaltitels sagt natürlich sehr viel mehr. Das ist die Anrede, die Ratna das Dienstmädchen für ihren Arbeitsgeber Ashwin verwenden muss und dies auch niemals in Frage stellt. Ratna ist mit neunzehn Witwe geworden und damit, wie sie später selbst erzählt, war ihr Leben draußen auf dem Dorf praktisch zuende, von nun an war sie für die Familie ihres verstorbenen gatten ein lästiger Fresser mehr. Ratna jedoch hat sich nicht wie viele andere Frauen in dieses Schicksal gefügt, sie ist in die Großstadt Mumbai gegangen, um dort Geld zu verdienen, weniger für sich selbst als vielmehr für die jüngere Schwester Chota, die eine Ausbildung haben soll und damit die Aussicht auf ein anderes, besseres, selbstbestimmteres Leben. Sie lebt in Ashwins Wohnung und schmeißt für ihn den Haushalt, und die Verhältnisse sind für alle klar. Sie ist ein Mädchen aus der unteren Schicht, Ashwin hingegen gehört zur Upper Class, Papa ist Bauunternehmer, er selbst hat in New York gelebt und verkehrt auch in Mumbai nur in exklusiveren Kreisen, und gerade ist seine angebahnte Heirat geplatzt, weil die Braut einen Seitensprung unternommen hat, was für Ashwin selbst völlig in Ordnung ist, denn er hat sie doch nicht richtig geliebt. Zwischen ihm und Ratna spielt sich dennoch eine langsame Annäherung statt, das eine oder andere privatere Gespräch, was vor allem er forciert, während sie auf Abstand und korrekte Umgangsformen achtet. Ihr Plan, bei einem alten Schneider in die Lehre zu gehen, erfüllt sich nicht, weil der sie nur als billige Hilfskraft benutzt. Dann berichtet ihre kleine Schwester, dass sie sehr bald heiraten wird, und Ratna kiegt eine Heidenangst, dass sie ihre Ausbildung einfach hinschmeißen und ihr großes, jahreslanges Opfer vergeblich werden lassen könnte. Und Ashwin nähert sich ihr eines Abends, küsst sie (bei diesem einen keuschen Kuss wird es dann auch bleiben…) und sagt ihr, dass er mit ihr leben will, was für sie vollkommen ausgeschlossen ist, weil sie sich, im Gegensatz zu ihm, sofort über die Folgen und die Unmöglichkeit dieser Idee im Klaren ist. Sie geht erstmal nach Hause ins Dorf und versichert sich dort, dass Chotas Ehemann ein Guter ist, einer aus der Stadt, einer von den Männern, die ihrer Frau auch Raum zur Selbstverwirklichung zubilligen, was heißt, dass ihre Schwester nach der Trauung ihre Ausbildung abschließen kann. Danach tut sie in Mumbai das einzig Mögliche, sie kündigt Ashwin, verlässt die Wohnung und versucht, ein neues Leben in der Stadt aufzubauen. Ashwin zieht ein paar Strippen und verschafft ihr die Chance, bei einer Modedesignerin anzufangen. Am Ende telefonieren die beiden, und sie nennt ihn zum ersten Mal nicht mehr „Sir“, sondern bei seinem Namen.
Was für eine Steilvorlage für großes Bollywoodkino, das tränenreiche Drama einer unmöglichen Liebe, die Tragödie zweier Königskinder, die nicht zusammenfinden dürfen, weil die Gesellschaft es nicht zulässt – und nichts davon findet sich in diesem Film wieder, und damit ist er schon fast ein kleines Wunder an sich. Er ist so behutsam, sensibel und gefühlvoll erzählt, verzichtet auf jegliches Melodrama, jede Tränendrüse, alles, was den Blick aufs Wesentliche verstellen könnte. Das Drama stellt sich ganz von selbst ein, es reicht, anhand dieser beiden Leute aus dem Indien von heute ein System vorzustellen, das noch immer so grausam, undurchlässig und unbarmherzig zu funktionieren scheint wie eh und je. Klassenschranken, auf deren Unüberwindbarkeit sogar die Brits direkt neidisch sein könnten, soziale Hierarchien, die ein gleichberechtigtes Miteinander der Menschen schlechthin unmöglich und scheinbar auch nicht gewollt machen. Denn weder Ashwins Leute einerseits noch Ratnas Leute andererseits streben eine Annäherung an, der Status wird als gegeben hingenommen und hilft allen offenbar als Sicherheit und Orientierungshilfe. Die Arroganz der oberen Zehntausend ist widerlich und fast physisch spürbar, die Art und Weise, wie sie die Dienstmädchen niederer Herkunft nicht mal durchweg schlecht behandeln, sondern vorzugsweise gänzlich ignorieren und höchstens mit ungnädigem Händewedeln abspeisen. Gemeinsam mit Ratna ringen wir um unsere Fassung, es geht um Würde und Erniedrigung, um Menschlichkeit im ursprünglichen Sinn. Alles, was hier geschieht, geschieht unter diesen Vorzeichen, ebenso alles, was nicht geschieht, nicht geschehen darf. Mit unerhört genauem Blick für Körpersprache, Gesten, Blicke beobachtet die Autorin/Regisseurin, die auf beiden Gebieten wirklich fabelhafte Arbeit geleistet hat, das Zusammenleben von Herr und Dienerin, die laut geltendem Kodex sich kaum ansehen, geschweige denn einmal länger miteinander reden dürften. Ratna leidet sicherlich darunter, doch ist sie viel eher als er imstande, sich damit abzufinden, diszipliniert in ihrer Rolle zu bleiben, und auch später erkennt sie die Bedeutung der Situation und ihre Konsequenzen und tut das Notwendige, um sie beide davor zu bewahren. Sie ist die Starke, auch diejenige, die ihr Leben wieder und wieder entschlossen in die Hand nimmt, sich nicht mit ihrem vorbestimmten Schicksal als nutzlose Frau und Witwe abfindet, sondern aktiv wird, ihr Leben gestalten möchte. Also ist dies eine Geschichte von Klassen und auch eine Geschichte von Männern und Frauen in Indien und den denkbar unterschiedlichen Chancen und Voraussetzungen, mit denen es beide zu tun haben.
Alles drin in diesem einen Film, alles sehr klar und deutlich, auch was die Position der Autorin angeht und ihre Sympathien, doch niemals zu platt oder klischeehaft. Wunderbar gespielt von den beiden Protagonisten zudem, und alles in allem ein Film aus Indien, wie man ihn trotz Deepa Mehta oder Mira Nair nicht allzu oft zu sehen kriegt. Falls es mehr von dieser Qualität gibt, was angesichts der gigantischen Kinomaschinerie dort drüben ja nicht auszuschließen wäre, sind sie leider noch nicht bis zu uns vorgedrungen. Was ich extrem wünschenswert fände, denn unser Bild von Indien wird ja leider doch allzu sehr von Klischees und Halbmythen beherrscht, und da kann das Kino als kulturelle Visitenkarte oft eine Menge ausrichten im Sinne von zurechtrücken. Meinetwegen herzlich gern! (29.12.)